Datum: 
23.02.2016
Kategorie: 

Darf man im (Tarawih-)Gebet aus einem Qur'an-Exemplar (Mushaf) rezitieren?

Beantwortet von Mufti Muhammad Ibn Adam

FRAGE: Ich habe eine Frage zur Rezitation des Qur'ans im Gebet, indem man dabei den Text ansieht. In einem Buch habe ich gelesen, dass das Gebet ungültig wird, wenn man beim Lesen auf den Text schaut. Stimmt das oder gibt es bestimmte Situationen, in denen so etwas erlaubt ist? Ist es erlaubt in Nafl- (freiwilligen) oder Tarawih-Gebeten?
 

ANTWORT: Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.

In der hanafitischen Rechtsschule gibt es zwei Meinungen bezüglich der Frage, ob man während des Gebets aus einem Buchexemplar des Qur'ans (Mushaf) rezitieren darf.

Imam Abu Hanifa (möge Allah sich seiner erbarmen), der Gründer dieser Rechtschule, vertritt die Meinung, dass es unzulässig ist, zu beten und dabei aus einem Mushaf abzulesen und zu rezitieren, oder von irgendeiner anderen Stelle, wie beispielsweise Qur’anverse, die in die Gebetsnische (Mihrab) eingraviert sind. Diese Tat macht das Gebet ungültig, egal ob man als Imam (Vorbeter), Mitbetender oder alleine betet, und egal, ob es sich um ein verpflichtetes (fardh), Tarawih- oder freiwilliges (nafl) Gebet handelt.

Die zweite Meinung diesbezüglich vertreten die beiden Schüler des Imams – nämlich Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad Ibn al-Hasan ash-Shaybani (möge Allah sich ihrer erbarmen). Ihrer Position nach ist das Gebet nicht ungültig, wenn aus einem Exemplar des Qur'ans (Mushaf) rezitiert wird, wenngleich diese Praxis als verpönt (makruh) gilt.

Im berühmten hanafitischen Fiqh-Grundlehrbuch, Maraqi al-Falah, heißt es:

„(Zu den Dingen, die das Gebet ungültig machen) gehört es, etwas, das man nicht im Gedächtnis eingeprägt hat, aus einem Mushaf zu rezitieren, auch wenn man den Mushaf nicht in den Händen hält, da man hiermit durch einen äußeren Faktor beeinflusst wird. Wenn jedoch der Text im Gedächtnis eingeprägt ist und der Mushaf nicht in Händen gehalten wird, dann wird das Gebet nicht ungültig, da keine (übermäßigen) Bewegungen oder äußere Beeinflussung bestehen.“ (Maraqi al-Falah mit dem Kommentar von at-Tahtawi, S. 336)

Imam al-Kasani (möge Allah sich seiner erbarmen) erklärt:

„Wenn jemand im Gebet aus einem Mushaf rezitiert, dann ist sein Gebet Imam Abu Hanifa (möge Allah sich seiner erbarmen) zufolge ungültig. Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad zufolge ist sein Gebet jedoch gültig, obgleich die Handlung verpönt ist. Imam ash-Shafi‘i (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt sogar, dass dies nicht verpönt ist.“ (Bada'i‘ as-Sana'i‘, Bd. 1, S. 236)

Imam al-Haskafi (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt:

„(Zu den Dingen, die das Gebet ungültig machen) gehört das Rezitieren aus einem Mushaf, sprich von jedwedem Gegenstand, auf dem ein Text aus dem Qur’an geschrieben steht, unter allen Umständen (mutlaqan), da es einer Inspiration (von außen) gleichkommt, es sei denn, das Rezitierte ist im Gedächtnis eingeprägt und der Mushaf wird beim Rezitieren nicht gehalten. Und es wurde gesagt, dass das Gebet nicht ungültig wird, solange kein ganzer Vers rezitiert wird. [...] Imam ash-Shafi‘i betrachtet es (das Rezitieren aus einem Mushaf) als erlaubt, ohne dass es verpönt wäre; Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad betrachten es als erlaubt aber unerwünscht, da es eine Nachahmung der Leute der Schrift (Ahl al-Kitab) darstellt. Gemeint ist, wenn jemand Nachahmung beabsichtigt […]“

Imam Ibn Abidin (möge Allah sich seiner erbarmen), der Kommentator von al-Haskafis ad-Durr al-Mukhtar, erklärt den oben zitierten Text, indem er sagt, dass das Ablesen von Qur'anversen aus einem Mushaf oder von irgendeiner anderen Stelle, wie beispielsweise der Gebetsnische (Mihrab), das Gebet gemäß Imam Abu Hanifa (möge Allah sich seiner erbarmen) ungültig macht, unabhängig davon, wieviel rezitiert wird und ob jemand als Imam (Vorbeter) oder alleine betet.

Weiterhin erklärt er, dass es grundsätzlich zwei Gründe für die Position von Abu Hanifa gibt: Erstens, dass es übermäßige nicht zum Gebet gehörige Bewegung (‘Amal al-kathir) darstellt, einen Mushaf in den Händen zu halten, abzulesen und die Seiten umzublättern. Zweitens, dass das Rezitieren aus einem Mushaf zur Annahme von äußerer Beeinflussung (Talaqqi) führt, und dies so ist, als ob die Qur'anrezitation während des Gebets von einer anderen Person beeinflusst wird.

Auf der Grundlage der zweiten Begründung, sagt er, dass das Gebet ungültig wird, unabhängig davon, ob man einen Mushaf in Händen hält oder nicht, wohingegen bei der ersten Begründung unterschieden wird, ob der Mushaf in Händen gehalten oder an einer Stelle platziert wird. Die zweite Begründung ist korrekter. Daher wird das Gebet, ungeachtet ob jemand einen Mushaf hält und Seiten umblättert oder nicht, ungültig.

Die einzige Ausnahme ist die Situation, in der man Verse aus dem Qur'an aus dem Gedächtnis heraus rezitiert, und den Mushaf lediglich offen vor sich stehen hat. Der Grund ist, dass die Rezitation primär auf dem Gedächtnis beruht und nicht auf dem Einfluss des Mushafs.

Er fügt hinzu, dass einige hanafitische Rechtsgelehrte das Gebet erst dann als ungültig erachten, wenn ein Text von der Länge der Sure al-Fatiha rezitiert wurde. Andere hingegen betrachten das Gebet dann als ungültig, wenn ein ganzer Vers aus dem Mushaf rezitiert wurde. Letzteres ist seiner Ansicht nach die korrektere Position (Siehe: Radd al-Muhtar ‘ala ad-Durr al-Mukhtar, Bd. 1, S. 624)

Imam Badr ad-Din al-‘Ayni (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt in seinem Kommentar zu Sahih al-Bukhari mit dem Titel ‚Umdat al-Qari‘:

„Das Rezitieren aus einem Mushaf macht das Gebet Imam Abu Hanifa (möge Allah sich seiner erbarmen) zufolge ungültig, weil es zu übermäßiger Bewegung zählt. Laut Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad (möge Allah sich ihrer erbarmen) hingegen ist es erlaubt, da die Rezitation mittels Ablesen aus einem Mushaf eine Form von Anbetung (‘Ibadah) darstellt. Dennoch ist es verpönt, weil es eine Nachahmung der Leute der Schrift ist. Diese Position [dass es erlaubt sei] ist auch die Position von Imam ash-Shafi‘i und Imam Ahmad (möge Allah sich ihrer erbarmen); und nach Imam Malik (möge Allah sich seiner erbarmen) werden freiwillige (nafl) Gebete durch das Rezitieren aus einem Mushaf nicht ungültig. (‘Umdat al-Qari Sharh Sahih al-Bukhari, Bd. 4, S. 314)

Im Anbetracht des bereits Gesagten bleibt es in der hanafitischen Rechtsschule unzulässig, aus einem Buchexemplar (Mushaf) des Qur'ans zu rezitieren, egal ob in einem Fard- (Pflicht-), Tarawih- oder Nafl- (freiwilligen) Gebet. Wenn jemand so handelt, egal ob er als Imam oder alleine betet, so ist sein Gebet gemäß der Position von Imam Abu Hanifa (möge Allah sich seiner erbarmen) ungültig. Die klassischen hanafitischen Fiqh-Grundlehrbücher (Mutūn), wie Maraqi al-Falah, übernehmen die Position von Abu Hanifa und betrachten das Rezitieren aus einem Mushaf als eine Handlung, die das Gebet ungültig macht.
 

Beweise

Der grundlegendste Beweis für diese Position der Hanafiten ist, dass es mehrere Ahadith (prophetische Überlieferungen) gibt, nach denen jemand, der unfähig ist, den Qur'an aus dem Gedächtnis heraus zu rezitieren, vom Gesandten Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) unterwiesen wurde, Allah im Gebet zu verherrlichen (Tasbih) und Ihn zu lobpreisen (Hamd), anstatt aus einem Mushaf zu rezitieren.

Sayyiduna Rifa‘a Ibn Rafi‘ (möge Allah sich seiner erbarmen) berichtet, dass der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) zu einem Mann, während er ihn lehrte, das Gebet zu verrichten, sagte: „[…] Wenn du dann Stellen aus dem Qur'an auswendig gelernt hast, rezitiere sie, ansonsten verherrliche Allah, den Erhabenen, und sprich den Takbir und den Tahlil (‚la ila ha illallah‘) […]“ (Sunan Abi Dawud, Nr. 857 und Sunan at-Thirmidhi, Nr. 302)

Sayyiduna ‘Abdullah Ibn Abi ‘Awfa (möge Allah mit ihm zufrieden sein) berichtet, dass ein Mann zum Gesandten Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) kam und sagte: „Ich kann nichts aus dem Qur'an auswendig lernen; so lehre mich etwas, das mir genügt.“ Er (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) sagte: „Sag: ‚Gepriesen sei Allah‘, ‚alles Lob gebührt Allah‘, ‚es gibt keinen Gott außer Allah‘, ‚Allah ist der Größte‘ und ‚es gibt keine Macht oder Kraft, die etwas bewirkt, außer durch Allah‘.“ Er antwortete: „O Gesandter Allahs! Das ist für Allah, aber was ist für mich?“ Er sagte: „Sag: ‚O Allah! Erbarme dich meiner, versorge mich, bewahre mich und leite mich recht.‘“ Als er aufstand, machte er ein Zeichen mit seiner Hand (um zu zeigen, dass er viel erhalten hat). Der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) sagte: „Dieser Mann hat seine Hände mit Gutem gefüllt.“ (Sunan Abi Dawud, Nr. 828 und Sunan Nasa'i, Nr. 795)

Imam Zafar Ahmad ‘Uthmani (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt in seinem I‘la as-Sunan, dass diese beiden Hadithe (prophetische Überlieferungen) darauf hindeuten, dass jeder, der in der Lage ist, Qur'anverse aus dem Gedächtnis zu rezitieren, so viel wie notwendig rezitieren muss. Wenn man allerdings nicht in der Lage ist, den für das Gebet notwendigen Umfang aus dem Qur'an auswendig zu lernen, dann greift man auf Gedenk- und Preisformeln (Dhikr) zurück. Wäre das Rezitieren aus einem Mushaf erlaubt, hätten die Rechtsgelehrten (Fuqaha) es als notwendig beurteilt und der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Frieden) hätte es angeordnet, denn auf Dhikr zurückzugreifen wäre nur eine Alternative für diejenigen gewesen, die nicht einmal aus einem Mushaf ablesen können. Das zeigt eindeutig, dass das Rezitieren aus einem Mushaf keine ‚zulässige‘ Rezitation ist, mit der das Gebet als gültig beurteilt werden kann. (Siehe: I‘la as-Sunan, Bd. 5, S. 59-60)

Wie zuvor erwähnt, ist es nach der schafiitischen und hanbalitischen Rechtschule erlaubt, in Fardh- (Pflicht-) und Nafl- (freiwilligen) Gebeten aus einem Mushaf zu rezitieren, egal ob man den rezitierten Teil auswendig kann oder nicht. Nach Imam Malik ist dies in Nafl- und Tarawih-Gebeten erlaubt. (Siehe: al-Majmu‘ von Imam an-Nawawi und Kashshaf al-Qina‘ von al-Bahuti, Bd. 1, S. 361)

Ihr Beweis ist der von Imam al-Bukhari in seinem Sahih ohne Überlieferungskette (mu‘allaqan) überlieferte Bericht dass „Sayyida ‘A'isha (möge Allah mit ihr zufrieden sein) hinter ihrem Sklaven Zakwan zu beten pflegte, der aus einem Mushaf rezitierte.“ (Sahih al-Bukhari, Bd. 1, S. 245 und Fath al-Bari, Bd. 2, S. 239)

Die hanafitischen Rechtsgelehrten (Fuqaha) haben verschiedene Erklärungen für diese Überlieferung:

a) Imam Zafar Ahmad ‘Uthmani erklärt, dass Zakwan den rezitierten Teil eigentlich auswendig konnte und dass das Rezitieren aus einem Mushaf (gemäß der Hanafiten) nur mit der Bedingung unzulässig ist, dass der Rezitierende das im Gebet Rezitierte nicht im Gedächtnis hat. Daher war Zakwans Rezitation nicht abhängig von äußeren Einflüssen, sondern beruhte vielmehr auf seinem eigenen Gedächtnis. Trotzdem ließ er den Mushaf als Gedächtnisstütze für ein oder zwei Wörter offen liegen, was das Gebet nicht ungültig macht. (Siehe: I‘la as-Sunan, Bd. 5, S. 61)

b) Imam Badr ad-Din al-‘Ayni erklärt die Bedeutung dieser Überlieferung in seinem Kommentar zu al-Hidaya dahingehend, dass Zakwan vor dem Beginn des Gebets Teile des Qur'ans aus dem Mushaf rezitierte und sich einprägte. Danach stand er auf, begann sein Gebet und rezitierte das gerade Gelernte aus seinem Gedächtnis. (al-Binaya fi Sharh al-Hidaya, Bd. 2, S. 427)

c) Imam al-Kasani sagt in seinem Bada'i‘ as-Sana'i‘, es sei möglich, dass in diesem Bericht zwei unterschiedliche Zustände erwähnt wurden, sprich Zakwan leitete das Gebet, und außerhalb des Gebets rezitierte er aus dem Mushaf. (Bada'i‘ as-Sana'i‘, Bd. 1, S. 236)

Abschließend sei dennoch gesagt: Dies ist eine Angelegenheit, in der die Rechtsgelehrten der vier sunnitischen Schulen des islamischen Rechts unterschiedliche Meinungen vertraten. Die hanafitische Schule erlaubt es nicht, während dem Gebet aus einem Qur'anexemplar (Mushaf) zu rezitieren, mit der Position Imam Abu Hanifas, dass das Gebet ungültig wird, wenn man dies tut. Die anderen Imame haben diese Praxis erlaubt, aber man sollte vorsichtig sein, nicht zu viele Bewegungen zu machen, während man den Mushafs hält, da diese das Gebet auch ihnen zufolge ungültig machen könnten.

Zuletzt sei gesagt, dass nach hanafitischer Rechtsschule das Gebet hinter einem Imam, der aus einem Mushaf rezitiert, auch für seine Mitbetenden ungültig wird. Daher sollte man es vermeiden, das Gebet hinter einem Imam zu verrichten, der dieser Praxis folgt. Jedoch kann dies in gemischten Gemeinden mit vielen Nicht-Hanafiten, in denen diese Praktiken üblich sind, schwer zu bewerkstelligen sein. In solchen Fällen, kann man hinter einem schafiitischen oder hanbalitischen Imam beten, welcher aus einem Buchexemplar des Qur'ans rezitiert, und dabei der Position von Imam Abu Yusuf und Imam Muhammad (möge Allah sich ihrer erbarmen) folgen. Dies ist eher im Sinne der Einheit und trägt dazu bei, Fitna (Zwietracht) zu vermeiden.

 

Und Allah weiß es am besten.

 

Muhammad Ibn Adam

Darul Iftaa

Leicester, UK

 

Originalquelle: http://seekershub.org/ans-blog/2009/06/18/reciting-from-a-copy-of-the-qu...