Datum: 
10.12.2015
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Wer ist ein Salafi und ist der salafistische Ansatz gültig?

Verfasst von: Nuh Ha Mim Keller

Das Wort Salafi(st) oder auch ‚früherer Muslim‘ im traditionellen islamischen Gelehrtentum bezeichnet jemanden, der in den ersten hundert Jahren nach dem Propheten Muhammad – Allah möge mit ihm zufrieden sein –  gestorben ist, darunter zählen unter anderem Gelehrte wie Abu Hanifa, Malik, Schafi’i und Ahmad ibn Hanbal. Diejenigen, die nach ihnen gestorben sind, zählen zu den Khalaf oder zu den ‚späteren Muslimen/Gelehrten‘.

Der Begriff Salafi(st) wurde unter den späteren Muslimen von den Anhängern von Muhammad Abduh (dem Studenten von Jamal al-Din al-Afghani) ungefähr 13 Jahrhunderte nach dem Propheten – möge Allah mit ihm barmherzig sein –, also ungefähr vor hundert Jahren, als Slogan oder (Reform-)Bewegung wiederbelebt. Wie bei ähnlichen Bewegungen, die in der islamischen Geschichte auftraten, behaupteten auch die Befürworter dieser Bewegung, dass die Religion seit dem Propheten – möge Allah mit ihm zufrieden sein – von niemandem richtig verstanden wurde, außer von ihnen und den früheren Muslimen.

Hinsichtlich der Ideale befürwortete die Bewegung eine Rückkehr zu Scharia-orientierten Orthodoxie, die den Islam von unrechtmäßigen Ansätzen ‚reinigt‘, und das Beurteilungskriterium wären der Koran und die Hadithe. Nun sind diese Ideale edel, und ich denke nicht, dass jemand ihrer Wichtigkeit nicht prinzipiell zustimmen würde. Die einzigen Streitpunkte sind nach wie vor, wie diese Ziele zu definieren sind und wie dieses Programm durchgeführt werden soll. Es ist schwierig, sich in wenigen Worten mit all den Aspekten dieser Bewegung und der damit verbundenen Fragen auseinanderzusetzen, allerdings hoffe ich, dass ich eine umfassendere Abhandlung noch in diesem Jahr in schā Allah, in einer Essay-Sammlung „Die Erneuerer des Islams (Re-Formers of Islam)“ veröffentlichen werde.

Was ihre Gültigkeit betrifft, kann man feststellen, dass der salafistische Denkansatz eine Interpretation beziehungsweise eine Auslegung der Texte aus dem Koran und der Sunnah ist. Und als solche unterliegen jene, die diese Behauptungen aufstellen, den gleichen strengen Kriterien der islamischen Wissenschaften wie jeder andere, der interpretative Behauptungen über den Koran und die sunnah aufstellt. Sie müssen beweisen,

1. dass ihre Auslegungen aus der Sicht der arabischen Sprache angemessen sind

2. dass sie alle Primärtexte mit all ihren Fragestellungen vollständig beherrschen

3. dass sie über die besten Kenntnisse der Methodologie des uṣūl al-fiqh bzw. der Grundlagen der Rechtslehre verfügen, die benötigt werden, um die Verbindung zwischen allen primären Texten umfassend herzustellen.

Nur wenn jemand über diese Qualifikationen verfügt, kann er berechtigterweise eine gültige interpretative Behauptung der Texte stellen, die man iğtihād oder ‚Ableitungen aus der Scharia von den ersten Quellen‘ nennt. Das höchste, was jemand ohne diese Qualifikationen legitim behaupten kann, ist, die Texte von jemandem, der definitiv diese Qualifikationen hat, weiterzuverbreiten. Das (also die Person, die diese Qualifikation hat) wäre zum Beispiel jemand, der einstimmig von der Umma als solcher seit der Zeit der wahren Salaf anerkannt wurde. An deren Spitze befinden sich die muğ​tahid-Imame der vier madhhab (Rechtschulen).

Es ist mir unklar, warum die Gelehrten von heute automatisch als muğ​tahid gesehen werden, wenn sie nicht über die Qualifikationen eines solchen verfügen. Wenn beispielsweise gesagt wird, dass jemand ‚der größte lebende Gelehrte der Sunnah‘ ist, dann könnten wir ein Schulkind auf dem Spielplatz mit unserer Behauptung ‚Er ist der größte Physiker auf dem Spielplatz‘ als Physiker qualifizieren. Ansprüche auf islamisches Wissen kommen nicht automatisch. Slogans wie ‚dem Koran und der Sunna folgen‘ klingen in der Theorie gut, aber in der Praxis kommt es auf die Gelehrsamkeit an und es stellt sich die Frage, wer tausende rechtliche Fragen klären soll, die im Leben einer Person aufkommen. Am Ende erkennt derjenige, dass er zwischen zwei Dingen entscheiden muss; und zwar dem Folgen des iğtihād eines wahren muğ​tahids, oder dem iğtihād eines anderen ‚Führers der Bewegung‘, dessen Qualifikationen nur von seinem Ruf abhängen. Dies ist etwas, was unter den Leuten sehr verbreitet ist (d.h. ohne tieferes Verständnis zu diesem Thema zu haben, folgt man dem Führer einer Bewegung).

Wenn von den ‚Salafisten‘ die Rede ist, denken die meisten Menschen gleich an junge bärtige Männer, die über den Islam diskutieren. Die Hoffnung dieser jungen Reformer scheint zu sein, dass Argumente und Dispute irgendwann jeden Widerstand oder jegliche Meinungsverschiedenheit gegenüber ihren Standpunkten zermürben wird und dies zur ‚Reinigung‘ des Islam führt. Ich denke, dass Bildung auf allen Seiten viel zur Verbesserung der Situation beitragen würde.

Diejenigen muğ​tahid-Imame, deren Aufgabe es war, das islamische Recht aus dem Koran und den Hadithen abzuleiten, waren sich über die meisten Regelungen einig. Die Meinungsunterschiede begründeten sie auch, sei dies, weil das Arabische mehr als einen einzigen Sinn beinhaltet oder weil der einzelne Koran - oder Hadithtext durch Begründungen in anderen Texten zu verstehen ist (einige von diesen waren wiederum für einen muğ​tahid aus Gründen seiner (spezifischen) Rechtsmethodik vertretbar, für einen anderen jedoch nicht).

Weil gegenwärtig seriöse Informationen in englischer Sprache fehlen, haben die Muslime im Westen die Legitimität in den Unterschieden der Gelehrtenmeinungen zu rechtlichen Regelungen aus den Augen verloren. Als Beispiel sei hier das Werk Fiqh al-sunnah vom Autor Sayyid Sābiq angeführt, welches kürzlich ins Englische übersetzt wurde. Es zeigt Hadith-Belege, die zu fünfundneunzig Prozent den Regelungen der schafiʿitischen Rechtschule entsprechen. Das ist ein willkommener Beitrag, jedoch keineswegs das ‚letzte Wort‘ zu diesen Regelungen, denn jede einzelne Rechtschule hat eine umfangreiche Literatur von Hadith-Belegen und nicht nur die schafiʿitische Rechtschule, welche im Werk von Sābiq wiedergegeben wurde. Die mālikitische Schule hat beispielsweise das Werk Mudawwana von Imam Malik und die ḥanafītischen Schule das Sharḥ maʿānī al-aṯar (Erläuterungen der Bedeutungen der Ḥadīṯe) und Sharḥ muškil al-aṯar (Erläuterungen zu den problematischen Hadithen) - beide vom großen Imam Abū Ǧaʿfar al-Ṭaḥāwī. Das letzte Werk wurde kürzlich in 16 Bänden von Mu’assasa al-Risāla in Beirut herausgegeben. Derjenige, der diese Werke nicht gelesen hat und den Inhalt nicht kennt, ist zum Unwissen gegenüber vielen ḥanafītischen Standpunkten bzgl. der Hadithlehre verurteilt.

Was ich sagen möchte, ist, dass sehr viele fiktionale Elemente hinzugefügt werden, wenn jemand zu den Muslimen geht und sagt: ‚Niemand hat den Islam richtig verstanden außer dem Propheten – möge Allah mit ihm zufrieden sein –, den früheren Muslimen sowie unserem Schaikh.‘ Das ist nicht gültig, denn die bestehenden Werke der erstklassigen Imame zu Hadith, Rechtslehre, Koranexegese und zu anderen Disziplinen der Scharia legen den Muslime die Pflicht auf, ihre Werke zu kennen und sie zu verstehen. In gleicher Weise ist es unabdingbar, sich in allen anderen wissenschaftlichen Feldern ein fundiertes Verständnis der Werke der bedeutendsten Gelehrten anzueignen, die sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und diese beantwortet haben. Ohne solch ein Studium ist man dazu verurteilt, dieselben Fehler zu wiederholen, die in der Vergangenheit gemacht wurden.

Die meisten von uns kennen in dieser Umma Menschen, die kaum einen anderen Gelehrten auf dieser Erde neben den Imamen ihrer Rechtschule, den Schaikh ihres Islamverständnisses oder irgendeinen zeitgenössischen Gelehrten anerkennen. Diese Art von Begeisterung ist verständlich, auch (auf menschlicher Ebene) akzeptabel, wenn es sich um einen Nicht-Gelehrten handelt – dies aber nur in dem Maße, dass es nicht zum taʿaṣṣub, nämlich Fanatismus kommt – d.h. dass man glaubt, man dürfe diejenigen Muslime kritisieren, die anderen qualifizierten Gelehrten folgen. Dies ist verboten und haram, weil es einen Teil von Sektiererei (tafarruq) unter den Muslimen darstellt, was der Islam mit Entschiedenheit ablehnt.

Wenn man islamisches Wissen erlangt und utopisches Denken beiseitelegt, sieht man, dass Superlative in der Bezeichnung einzelner Gelehrte wie zum Beispiel ‚der Größte‘ unangebracht sind, und dass jede der vier klassischen, islamischen Rechtsschulen aus sehr vielen bedeutenden Persönlichkeiten besteht.

Die Vorstellung, dass alle vorhergehenden Gelehrten nach diesem oder jenem ‚großen Erneuerer‘ beurteilt werden sollten, würde heißen, dass man auf eine große Enttäuschung zugeht, da dies intellektuell nicht tragbar ist.

Ich erinnere mich, dass ich einen Jurastudenten an der Universität von Chicago Folgendes sagen hörte: “Ich behaupte nicht, dass Chicago alles hat. Aber es gibt auch keinen anderen Ort, der alles hat.” Nichts rechtfertigt die Übertragung einer solchen Haltung auf wissenschaftliche Quellen im Islam, ob es ‚islamische Bewegung‘, ‚Salafismus‘, oder anderweitig genannt wird, und je eher wir dies hinter uns lassen, desto besser ist es für unser islamisches Wissen, sowie unseren Realitätssinn und unsere Religion.

 

Originalquelle: http://www.masud.co.uk/ISLAM/nuh/salafi.htm