Die sechs häufigsten Fehler im Uṣūl – Teil II –

17.12.2013

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Allgemein

Die sechs häufigsten Fehler im Uṣūl – Teil II –

Fehler 5: Ein Mangel an Wissen ist eine allgemeingültige Entschuldigung
Genauso wie Allāh – der Erhabene – großzügig, tolerant und barmherzig ist, kann auch Sein Gesetz mit diesen Attributen beschrieben werden. Ein Beispiel hierfür ist die Freistellung einer Person von rechtlichen Konsequenzen im šarīʿa-rechtlichen Sinne, wenn sie etwas vergisst, nicht zuständig ist oder – wie in unserem Beispiel – zu bestimmten Themen1kein Wissen besitzt.

Dazu finden sich zahlreiche Beispiele aus der Zeit des Propheten ﷺ. Er entschuldigte den „Mann, der falsch betete“, da dieser nicht wusste, wie man in der richtigen Reihenfolge betet. Ebenso entschuldigte er Muʿāwiya b. al-Ḥakam – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – dafür, dass er während des Gebets mit anderen sprach, da er nicht wusste, dass dies inzwischen verboten worden war. Er ﷺ entschuldigte das Volk von Qubāʾ, als sie noch in Richtung Jerusalem beteten, nicht wissend, dass dies aufgehoben worden war. Ebenso entschuldigte er einen Gefährten, der nicht betete, da kein Wasser zur Verfügung stand und er über den tayammum2 nicht informiert war.

Einst brachte ein Mann dem Propheten ﷺ Wein als Geschenk. Der Prophet ﷺ fragte ihn: „Weißt du nicht, dass Allāh den Konsum von Wein verboten hat?“ Als der Mann dies verneinte, tadelte oder bestrafte der Prophet ﷺ ihn nicht3. Dieses Verhalten wird durch den Qurʾān-Vers unterstrichen:

„…Wir strafen nicht eher, bis Wir einen Gesandten geschickt haben.“ (al-Isrāʾ, 17:15)

Manche sehen dies nun als Freifahrtschein, nicht verantwortlich gemacht zu werden, wenn man zu bestimmten Themen kein Wissen hat. Doch hier liegt die Gefahr einer „gewollten Unwissenheit“: sich nicht mit dem Erwerb islamischen Wissens zu beschäftigen, um so vermeintlich der Verantwortung zu entgehen.

Es mag scheinen, dass man, je mehr man weiß, desto mehr Verpflichtungen hat – und umgekehrt, je weniger man weiß, desto freier handeln kann. Bewusst oder unbewusst – sei es durch den Einfluss Satans oder durch die eigene Neigung – kann dies als Schlupfloch in der šarīʿa missbraucht werden, um Fehlverhalten zu rechtfertigen.

Daher ist es entscheidend zu wissen, wer durch Unkenntnis seiner rechtlichen Pflichten entschuldigt ist – und wer nicht.

Wer gerechtfertigterweise über ein Thema kein Wissen hat, sei es, weil er neu im Islam ist oder weil er keinen Zugang zu diesem Wissen hat, wird entschuldigt, und es wird darüber hinweggesehen. Wenn jedoch die Möglichkeit besteht, Wissen zu erlangen, man sich aber absichtlich dagegen entscheidet, ist diese „absichtliche Ignoranz“ keine Entschuldigung, und man wird für seine Taten zur Verantwortung gezogen. Dazu zählen sowohl verbotene Handlungen aus Unwissenheit als auch fehlerhaft oder unvollständig durchgeführte Gebete.

Aus Scharia-rechtlicher Perspektive gilt: Wer die Möglichkeit hat, das Gesetz zu lernen, wird behandelt wie jemand, der es tatsächlich gelernt hat4.

Das Streben nach Wissen ist Pflicht eines jeden Muslims, wie es in einem bekannten Hadith5 belegt ist. Dies umfasst sowohl das Wissen über Allāh – den Allmächtigen –, die grundlegenden Glaubensprinzipien und die Regelungen für persönliche Handlungen (wie rituelle Reinigung, Gebet, Fasten) als auch Wissen zu weltlichen Angelegenheiten wie Nahrung, Kleidung und sozialem Verhalten.

Wer heiraten möchte, muss die Regeln der Ehe und des Familienlebens kennen. Wer Handel treiben will, muss die islamischen Handelsgesetze lernen. Wer Vermögen besitzt, muss die Regeln der Zakāh kennen. Dieses Wissen, das für das tägliche Leben notwendig ist, gilt als farḍ ʿayn – eine persönliche Verpflichtung für jeden Muslim, ob Mann oder Frau, Laie oder Gelehrter.

Wenn jemand die Möglichkeit hat, dieses Wissen zu erwerben, sich jedoch abwendet, oder jemanden um Rat fragen könnte, dies aber unterlässt, trägt er Verantwortung für seine Taten, und seine Unwissenheit ist keine Entschuldigung.

Vergleichsweise: Wenn jemand eine verbotene Handlung begeht, deren rechtliche Konsequenzen er nicht kennt, bleiben diese Konsequenzen dennoch bestehen. Beispiel: Ein verheiratetes Ehepaar weiß, dass Geschlechtsverkehr im Ramaḍān tagsüber verboten ist, ist sich aber nicht bewusst, dass dies das Fasten bricht. Ihr Fasten ist trotzdem ungültig und muss nachgeholt werden.

Oder: Jemand verletzt die Rechte anderer – ob absichtlich oder unabsichtlich – und muss sie wiederherstellen. Wer etwas stiehlt, muss es zurückgeben, selbst wenn er zum Zeitpunkt der Tat die Unrechtmäßigkeit nicht kannte.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Unwissenheit nicht automatisch vor rechtlichen Konsequenzen schützt.

Ein arabisches Sprichwort sagt: „Ein unwissender Mensch fügt sich selbst und anderen das zu, was sich Feinde gegenseitig antun.“

Möge Allāh uns vor dem Schaden unserer Unwissenheit bewahren, uns aus ihrer Dunkelheit in das Licht des Wissens und des Verstehens führen, uns befähigen, Ihn mit Wissen und auf die beste Weise anzubeten, und uns tafaqquh (tiefes Verständnis) in unserem Glauben gewähren. Āmīn.

 

 

Footnotes

  1. Zum Beispiel Grundlagen der islamischen Rechtsprechung, Muḥammad Hāschim Kamālī, S. 450, oder die Rubrik aḥliyyah in vielen uṣūl al-fiqh-Werken.

  2. Aus Iʿlām al-muwaqqiʿīn von Ibn Qayyim al-Ǧauziyyah, zitiert in einem Artikel von Muḥammad Ṣāliḥ al-Munaǧǧid.

  3. Ṣaḥīḥ Muslim.

  4. Grundlagen der islamischen Rechtsprechung, Muḥammad Hāschim Kamālī.

  5. Kitāb al-ašbāh wa-n-naẓāʾir fī furūʿ aš-Šāfiʿīyyah von Imām Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, 1/413, Dār as-Salām Publishers.