Datum: 
22.06.2016

Wie würden Sie auf die Behauptung antworten, dass Sufismus eine bidʿa sei? Eine Antwort von Schaikh Nuh Ha Mim Keller (1995)

 

Ich würde mir anschauen, wie die traditionellen islamischen Gelehrten diese Sache betrachtet haben. Über die längste Periode islamischer Geschichte – von den Umayyaden zu den Abbasiden, über die Mamluken bis zum Ende der 600-jährigen Periode osmanischer Herrschaft – wurde der Sufismus als eine islamische Wissenschaft verstanden, ebenso wie die Korannexegese (Tafsir), die Koranrezitation (taǧwid), die Glaubensgrundsätze (ilm al-tauḥīd) und all die anderen Wissenszweige, die dazu beigetragen haben, dass ein bestimmter Aspekt des Glaubens erhalten bleibt. Zwar waren die Details und die Terminologie dieser Disziplinen den ersten Generationen der Muslime unbekannt, jedoch wurden sie, als sie in Erscheinung traten, von den Gelehrten nicht als bidʿa oder verwerfliche Innovationen angesehen. Denn eine bidʿa bezog sich für sie nicht auf die Art, sondern betraf den Zweck, oder genauer gesagt: Eine bidʿa wird definiert durch den Zweck, der im Islam keinen anerkannten Wert hat.

Um diesen Punkt zu illustrieren, ziehen wir als Beispiel die Tatsache heran, dass der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – nie in seinem Leben in einer Moschee aus Stahlbeton mit Teppichen am Boden, Glasfenstern usw. gebetet hat, und doch werden diese Dinge nicht als bidʿa angesehen, da uns Muslimen befohlen wurde, zusammenzukommen und in der Gemeinschaft zu beten. Und große neue Gebäude sind ein Mittel, dieser Anordnung nachzukommen.

Im Bereich des Wissens waren der ersten Generation weder Bücher über detaillierte Interpretationen des Koran, Vers nach Vers und Sure nach Sure, bekannt, noch war der Begriff ‚Tafsir‘ unter ihnen gängig. Dennoch wurde die Tafsirliteratur nach ihrem Auftreten nicht als bidʿa verurteilt, sondern als ein Mittel zum Zweck gebilligt, da es einen vitalen Aspekt der Offenbarung bewahrte, nämlich ihr Verständnis. Dasselbe gilt auch für die meisten anderen islamischen Wissenschaften, zum Beispiel ʿilm al-ǧarḥ wa-t-taʿdīl, also die Wissenschaft, positive und negative Faktoren zur Evaluierung der Vertrauenswürdigkeit von Hadithüberlieferern zu erwägen, oder ʿilm al-tauḥīd, also die Wissenschaft der Grundsätze islamischen Glaubens oder anderer Disziplinen, die essenziell für die Religion sind. In diesem Zusammenhang sagte Imam Schafiʿī – möge Allah ihm gnädig sein – gest. 204 n. H./820 n. Chr.: „Alles, das eine Unterstützung (mustanad) durch die Religion erfährt, ist keine bidʿa, selbst wenn die ersten Muslime dies nicht getan haben“ (vgl. Aḥmad al-Ghimarī, Taschnīf al-ādhān, Kairo, Maktaba al-Khanji, n. d., 133).

So ähnlich entstand ʿilm al-tasauwuf (die Wissenschaft des Sufismus), um einen bestimmten Teil der Scharia, nämlich den des ikhlāṣ oder der Aufrichtigkeit, zu erhalten und zu überliefern. Es wurde erkannt, dass die Sunna des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – nicht nur Worte und Taten, sondern auch Zustände des Seins beinhaltet: Ein Muslim muss nicht nur gewisse Dinge sagen oder tun, sondern er muss auch eine gewisse Geisteshaltung aufweisen. Die Religion zum Beispiel befiehlt einen Zustand, der in vielen Koranversen und Hadithen auftaucht, nämlich den der Gottesfurcht, aber auch: Ehrlichkeit Allah gegenüber zu haben, sich im Wissen über Allah sicher zu sein, Ihn anzubeten, als ob man Ihn sieht, den Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – mehr als irgendeinen anderen Menschen zu lieben, Liebe und Respekt gegenüber jedem Muslim zu zeigen, Gnade zu haben und viele andere Zustände des Herzens. Sie verbietet uns zum Beispiel innere Zustände wie Neid, Bosheit, Stolz, Arroganz, Liebe dieser Welt gegenüber, Wut des Egos willen etc. Al-Ḥakīm at-Tirmidhī überliefert einen Hadith, dessen Überlieferungskette von Ibn Maʿīn als authentisch (ṣaḥīḥ) eingestuft wurde, in dem es heißt: „Die Wut verdirbt den Glauben so wie der bittere Aloensaft Honig verdirbt“ (vgl. Nawādir al-uṣūl. Istanbul 1294/1877. Reprint: Beirut, Dar Sadir, S. 6).

Wenn wir über diese Zustände – die entweder wichtig zu erreichen oder zu eliminieren sind – nachdenken, wird uns klar, dass sie von Charaktereigenschaften hervorgehen; Eigenschaften, die nicht nur im unbekehrbaren menschlichen Herzen nicht vorhanden sind, sondern auch etwas Anstrengung erfordern. Auch führen diese Eigenschaften zu einer Wandlung im Menschen, die so tiefgehend ist, dass sie der Koran in vielen Versen als Reinigung bezeichnet, zum Beispiel in Sure al-Aʿlā, wenn Allah sagt: «Erfolgreich ist jener, der sich selbst reinigt.» (al-Aʿlā, 87:14). Diesen Wandel in uns zu vollbringen, ist das Ziel der islamischen Wissenschaft des Sufismus und kann nicht als bidʿa bezeichnet werden, da uns die Religion befiehlt, diesen Wandel zu erzielen.

Das praktische Niveau dieser Lehre der Herzensreinigung (genauso wie alle anderen Lehren im Islam) erfordert es, das Wissen von denjenigen zu beziehen, die es besitzen. Daher finden wir geschichtlich betrachtet Gruppen von Schülern, die sich um bestimmte Lehrer (schuyūḫ) versammelt haben, um die Lehren des Sufismus von ihnen zu erlernen. Wenn auch solche ‚tariqas‘ (ṭuruq) bzw. vergangene und gegenwärtige Gruppen verschiedene Wege gelehrt haben, um das Herz an Allah zu binden, so wie es die Offenbarung befiehlt, haben sie jedoch vieles gemeinsam. Als Beispiel kann hier Folgendes angegeben werden: das Erlernen von Wissen von einem Lehrer durch Beispiele und Grundsätze; daraufhin die methodische Steigerung des Glaubens durch die Anwendung dieses Wissens und durch das Durchführen verpflichtender und zusätzlicher Gebete, wozu das Größte, nämlich dhikr (sich an Allah erinnern), gehört.

Es gibt vielerlei Beweise im Koran und in der Sunna, die die Gültigkeit dieser Herangehensweise bestätigen, etwa in einem Hadith, der von al-Bukhārī überliefert wird: „Allah der Erhabene sagt: ,,[...] Mein Diener nähert sich Mir mit nichts das Mir lieber ist, als die von Mir gebotenen Pflichten (farḍ) zu verrichten. Und Mein Diener nähert sich Mir solange durch freiwillige Taten (nāfila), bis Ich ihn liebe. Und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Ohr, mit dem er hört, und sein Auge, mit dem er sieht, und seine Hand, mit der er greift, und sein Fuß, mit dem er geht. Und wenn er Mich nach etwas fragt, dann gebe Ich ihm. Und wenn er Mich um Zuflucht bittet, dann gewähre Ich sie ihm“ (vgl. Ṣaḥīḥ al-Bukhārī. 9. Bd., Kairo 1313/1895. Reprint (9. Bd. in 3); Beirut: Dar al-Jil, n. d., 5.131: 6502).

Dies bedeutet, dass eine Person das perfekte Bewusstsein des tauḥīd (der Einheit Allahs) erreicht hat, das von der Religion verlangt wird, und das die vollkommene Ehrlichkeit gegenüber Allah in allen Handlungen beinhaltet. Aufgrund dieses und anderer Hadithe haben viele Gelehrten seit jeher dargelegt, dass nur Wissen allein nicht genügt, sondern dass auch die Anwendung des Wissens in Taten sowie der daraus resultierende spirituelle Zustand (wie in dem Hadith zuvor erwähnt) beinhaltet sein müssen.

Wenn sich ein Gelehrter in diesem System einfügt, dann spiegeln Worte, die er spricht, seine Bescheidenheit und Aufrichtigkeit wider und aus diesem Grund gehen diese in die Herzen der Zuhörer über. So wurde dieser Sachverhalt immer wahrgenommen.

Daher erkennen wir, dass so viele unter den islamischen Gelehrten, denen Allah Erfolg in ihrer Arbeit gab, Sufis waren. Wenn man tatsächlich die Werke jener Gelehrten verwerfen würde, die durch Sufis ausgebildet wurden, so müsste man 75 Prozent aller Werke oder mehr ausschließen. Unter ihnen wären Menschen wie der ḥanafītische Gelehrte Imam Muḥammad Amīn Ibn ʿābidīn, Schaikh al-Islam Zakaria al-Anṣārī, Imam Ibn Daqīq al-ʿīd, Imam al-ʿizz Ibn ʿabd as-Salām, ʿabd al-Ghanī al-Nāblusī, Schaikh Aḥmad al-Sirhindī, Shaykh Ibrāhīm al-Bāǧūrī, Imam al-Ghazzālī, Schāh Walīullāh al-Dahlawī, Imam an-Nawawī, der Hadithmeister (Hafis, jemand der 100.000 Hadithe auswendig kann) Murtaḍā al-Zabīdī, der Hadithmeister ʿabd al-Raʾūf al-Manāwī, der Hadithmeister Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, der Hadithmeister Taqī ad-Dīn al-Subkī, Imam ar-Rāfiʿī, Imam ibn Ḥaǧar al-Haythamī, Zayn ad-Dīn al-Mallibarī, Aḥmad ibn Naqīb al-Miṣrī und viele andere.

Imam Al-Nawawīs Einstellung zum Sufismus ist in seinem Werk Bustān al-ʿārifīn (Hain der Gotteskenner) sowie in seinem Bezugswerk zu al-Quschairīs berühmtem Sufihandbuch al-Risāla al quschairīya, in Kitāb al-adhkār (Buch der Gotteserinnerungen) eindeutig erkennbar, sowie auch die Tatsache, dass 15 von 17 Zitaten über Aufrichtigkeit (ikhlāṣ) und Wahrhaftigkeit (ṣidq) in einer Einführungssektion seines größten Rechtswerkes (al-Maǧmūʿ: scharḥ al-muhadhdhab. 20 Teile, Cairo n. d. Reprint. Medina: al-Maktaba al-Salafiyya, n.d., 1.1718) von Sufis stammen, die namentlich in al-Sulamis Ṭabaqāt al-sufīya (Die aufeinanderfolgenden Generationen von Sufis) genannt werden. Selbst Ibn Taymiya (dessen Ansichten über den Sufismus selbst denen unbekannt bleiben, die in ihm ihren ‚Schaikh al-Islam‘ sehen) widmete Band 10 und 11 seines Maǧmūʿ al-fatāwa dem Sufismus, während sein Schüler Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya ein dreibändiges Kommentarwerk, Madāriǧ al-Sālikīn, zu Abdullah al-Anṣārīs Manāzil al-sāʾirīn schrieb, ein Leitwerk zu den maqāmāt oder auch spirituellen Stufen des Sufiwegs.

Diese und viele andere Gelehrten kannten aus erster Hand den Wert des Sufismus als eine ergänzende Disziplin der Religionswissenschaft, die zur Herzensreinigung notwendig ist. Das war der Grund, dass die Umma als Ganzes durch die Epochen islamischer Zivilisation den Sufismus nicht als bidʿa brandmarkte, sondern ihn vielmehr als die Wissenschaft von ikhlāṣ oder Aufrichtigkeit erkannte, die dringend von jedem Muslim benötigt wird, insbesondere «an dem Tag, da weder Besitz noch Söhne (jemandem) nutzen, außer wer zu Allah mit reinem Herzen kommt» (asch-Schuʿarāʾ, 26:88).

Und Allah allein gibt Erfolg.