Datum: 
17.12.2013

Es gibt einige wichtige Punkte, die verinnerlicht gehören, bevor man über die Urteile der Šarīʿa und ihre dazugehörigen Dalīl diskutieren kann:

1) Ein Dalīl kann etwas anderes außer Koran und Ḥādīṯ sein

Das Wort Dalīl, oft übersetzt als Beweis oder Grundlage, wird in vielen Uṣūl Büchern als Hinweis in Quellen definiert, aus welchem sich praktische Gesetze in islamischer Gesetzgebung ableiten können. Obwohl Koran und Sunnah die primären und essentiellsten Quellen sind, aus denen sich die Šarīʿa ableitet, existieren jedoch auch andere Quellen. Konsens der Gelehrten (Idschmā) und Analogieschluss (Qiyās) sind zwei der anerkanntesten Grundlagen nach Koran und Sunnah; Es existieren noch einige andere, wobei geschichtlich betrachtet Uneinigkeit unter den Gelehrten darüber herrscht, wie zum Beispiel der Anbetracht des öffentlichen Interesses (Iṣtislāh), Brauch (‘Urf), juristischer Vorzug (Istiḥsān), und einige mehr. Aus dieser Gesamtheit von Quellen macht ein Gelehrter Istinbāṭ, oder auch gesetzliche Ableitungen genannt, um zu einem Beschluss im Sinne der Šarīʿa zu kommen. Daher kann sich das Wort Dalīl auf Verse aus dem Qur’an und Aḥādīṯ beziehen, oder auch auf eine der bereits erwähnten Grundlagen, je nachdem, wie es mit der aktuellen Thematik aussieht.

2) Ein Vers aus dem Koran oder ein Ḥādīṯ als Dalīl herzunehmen bedeutet nicht notwendiger Weise, dass es die einzige, absolute Meinung zum jeweiligen Anliegen ist

Es ist wichtig zu verstehen, obwohl ein Vers aus dem Koran oder ṣaḥīḥ Aḥādīṯ, absolut und klar in ihrer Authentizität, maßgeblich sein können, es sehr wohl so sein kann, dass sie wahrscheinlich (ẓanni) in ihrer Art der Beweislage in Bezug auf ein gewisses Anliegen sind. Zum Beispiel wird der Vers 6, Kapitel 5 im Koran in Bezug auf die Methode der rituellen Gebetswaschung sicherlich von keinem Muslim in seiner Authentizität, Bedeutung und göttlichen Offenbarung angezweifelt. Jedoch werden aufgrund der Wortwahl des Verses verschiedene Rechtsurteile abgeleitet. Daher finden wir Gelehrte, die meinen, es sei eine Verpflichtung (Farḍ) die Reihenfolge wie sie im Vers erwähnt wird, einzuhalten, während andere wiederum behaupten, die Reihenfolge sei keine Pflicht – und beide Gruppen stützen sich auf diesen Vers als Dalīl! Die meisten Texte aus Koran und Sunnah sind sehr offen für verschiedenste Interpretationen. Daher sollten wir verstehen, wenn zu einem gewissen Thema Koranverse oder Aḥādīṯ als Dalīl herangenommen werden, es keinesfalls bedeutet, dass dadurch andere Meinungen zum gleichen Anliegen verneint werden.

In Bezug auf Anliegen, in welchen Koranverse oder Aḥādīṯ so artikuliert sind, dass keine andere Interpretation bis auf eine einzige abgeleitet werden kann, kann man von absoluten und endgültigen Beschlüssen sprechen. Jedoch wird es in den meisten Fällen, vor allem in Belangen die in unseren Gesellschaften und Umgebungen thematisiert werden, so sein, dass ein Koran Vers oder Ḥadīṯ zwar als Dalīl angeführt wird, sie jedoch nicht notwendiger Weise gleich alle anderen Optionen und Urteile zum selben Thema, die durch andere Gelehrte getroffen werden, negieren.

Es kann auch vorkommen, dass ein Ḥādīṯ zu einem Belangen als Dalīl genannt wird, obwohl es nicht absolut (Qaṭʿī) in seiner Authentizität ist, wie zum Beispiel jene, die als ad klassifiziert werden. Was genau damit gemeint wird, ist in der Bezeichnung ʾAḥād (Mehrzahl von Aḥad) impliziert, also jene Aḥādīṯ, die nicht die notwendige Art oder Anzahl an Überlieferungsketten verfügen, um Mutawātir zu sein, obwohl sie vielleicht sehr oft vorkommen. In so einem Fall werden Gelehrte einen Blick auf andere Quellen und Texte werfen und ihnen in ihrer Problemanalyse mehr Gewicht zusprechen, und vielleicht sogar zu einer Entscheidung kommen, die sogar den Anschein erweckt, als ob sie den Ḥādīṯ zum Thema widersprechen. In so einem Fall der Urteilsfindung sind Aḥādīṯ als Dalīl nicht absolut oder endgültig, und lassen somit Freiräume für andere Urteile und Entscheidungen mit ihren jeweiligen Dalīl.

3) Die Extrapolation von Gesetzen aus heiligen Schriften ist ein komplexer Vorgang, der Wissen und Routine erfordert

Weiter ist es wichtig, sich bewusst zu werden, obwohl uns ein Vers oder ein Ḥādīṯ als eindeutig und klar in ihrer Aussage erscheinen, es trotzdem nicht so sein kann, dass wir in die Annahme verfallen, wir selbst könnten daraus ein Urteil ableiten. Es gibt sehr viele Faktoren die in diesen Prozess der Urteilsfindung miteinfließen. Wenn man sich zum Beispiel mit dem Koran befasst, so muss man sehr mit den die verschiedenen Themen der Wissenschaften des Koran vertraut sein, wie zum Beispiel mit den Themen Nasḫ (Ab Rogation), Al-’Ām wal-Ḫās (Angabe des Einsatzfeldes des Textes aufgrund von anderen Versen oder Aḥādīṯ), Istiqrā (das Verstehen des Textes im Kontext mit anderen Texten in Bezug auf das gleiche Thema oder verwandte Bereiche) und so weiter. In Bezug auf Aḥādīṯ muss man ein gewisses Level an Erfahrung in den dazugehörenden Wissenschaften mitbringen. Zusätzlich sollten fundierte Kenntnisse der arabischen Sprache, Grammatik, Wortwahl, vorhanden sein, um diese in den Texten zu verstehen, sowie ein weitgehendes Verständnis über gesetzgebende Theorie, die natürlich ein Bekanntsein mit anderen gesetzgebenden Quellen miteinbezieht, die zur Ableitung praktischer Gesetze der Šarīʿa angewendet werden, sowie die Kenntnis über andere islamische Wissenschaften.

Dies heißt jetzt nicht, dass wir keinen Nutzen oder kein Verständnis der Wörter unseres geliebten Propheten, Friede sei mit ihm, oder der göttlichen Wörter des Buches Allāhs haben. Der Nutzen darin unterscheidet sich jedoch sehr stark vom Prozess der Ableitung schariatischer Gesetze, welchen wir denjenigen überlassen sollten, die ein gründliches Training und Wissen darüber haben. Der Titel eines Werks von Ibn ul-Qayyim al-Ǧawziyyah, „Iʿlām ul-muwaqqiʿīn“ (wörtlich: Mitteilung an die Unterzeichner), spielt an die Ernsthaftigkeit dieser Arbeit an, und impliziert, dass diejenigen, die solche Urteile ableiten Unterzeichner Gottes sind.

Wenn wir uns nun über verschiedene Meinungen zu einer Angelegenheit unterhalten, so hören wir manche Menschen sagen “Mich interessieren die Meinungen von anderen Menschen nicht, ich möchte nur hören “Es sagt Allah, es sagt der Prophet, Friede sei mit ihm!” Es mag sein, dass die Absicht dieser Meinung gut ist, sie vereinfacht nur viel zu sehr Angelegenheiten in verschiedenen Ebenen. So lange ein Mensch keine Bildung in den oben erwähnten Wissenschaften vorweisen kann, wird er nie verstehen können, was genau die Verse und Aḥādīṯ implizieren in Bezug auf die Stärke der Meinung über eine Angelegenheit. So jemand wird vielleicht nach Dalīl fragen, obwohl er keine richtige Grundlage besitzt, um diese überhaupt zu analysieren und korrekte Schlüsse daraus zu ziehen. Daher wird auch berichtet, Imam Šatibi, möge Allah mit ihm zufrieden sein, habe gesagt: “Die Fatāwā (Rechtsurteile) von qualifizierten Gelehrten sind für den Laien das, was Beweise und Zeugnisse aus den Texten (Dalīl) für den Gelehrten sind”.

Es ist nichts Falsches daran, über die Grundlage oder Methodik eines Gelehrten nachzuforschen, laut welcher er einen gesetzlichen Beschluss zu einem Thema gefällt hat; Worauf der Text hinaus will ist, dass man nicht einfach so annehmen kann, das Gleiche im selben Prozess zu vollführen wie Gelehrte, da es ein komplizierter Vorgang ist, welcher ein besonderes Maß an Erfahrung braucht. Unser Ziel sollte es sein, Kenntnis über die Methodologie der Gelehrten zu erlangen, sodass wir unterscheiden können, wer qualifiziert ist und wer nicht und dass wir Meinungen, die eine logische Grundlage haben, von denen ohne unterscheiden können.

4) Schlussfolgerung

Wir sehen anhand der oben angeführten Beispiele, dass Dalīl in der Tat etwas anderes außer Koranversen oder Aḥādīṯ sein kann, abhängig vom zu diskutierenden Thema, und dass, sogar wenn es sich um ein Koranvers oder Hadith handelt, in den meisten Fällen sehr wohl Platz für andere Interpretationen sein kann. Wir erkennen auch, dass das Ableiten von Gutachten aus den Dalīl keine einfache Angelegenheit ist. Es mag sein, dass ein Laie die gleichen Unterlagen und Materialien wie ein Künstler besitzt; Er wird jedoch kein Kunstwerk wie der Künstler selbst hervorbringen können. Genauso haben wir manchmal die gleichen Unterlagen und Materialien wie Gelehrte, sind aber unfähig, dieselben Schlüsse zu ziehen.

Möge Allah der Allerhöchste uns die Wertschätzung für die Kunst unserer Gelehrten zukommen lassen, welche mit feinen Pinselstrichen uns das Bild des Gottesdienstes und der Religionspraktik malen. Möge Er uns Verständnis und Einsicht über den Islam gewähren und uns Ihn auf die schönste und beste Art und Weise anbeten lassen. Amin!

Quellenangaben:

Mohammad Hashim Kamali, “Grundlagen islamischer Rechtssprechung”

“Al-Lamadhabiyya”, Shaykh und Shahid Dr. Said Ramadan al-Bouti, rah.