Datum: 
09.12.2015

Das Prinzip, das kleinere zweier Übel zu wählen

Beantwortet von Mufti Muhammad Ibn Adam

FRAGE: Wie erklären Sie das Prinzip, das kleinere zweier Übel zu wählen?
 

ANTWORT: Die verschiedenen Prinzipien (Qawāʿid), welche von den klassischen Rechtsgelehrten (Fuqahā‘) dargelegt wurden, sind das Ergebnis ausgiebigen Studiums der Urteile (Masā'il) der Rechtswissenschaft (Fiqh) im Laufe der Jahrhunderte. Diese Prinzipien kamen nicht einfach aufgrund persönlicher Meinungen oder Erfahrungen der Fuqahā‘ oder durch Zufälle zustande. Vielmehr können diese Prinzipien bereits in der Ära der Gefährten und deren Nachfolger (Tabi‘in) entdeckt werden, möge Allah mit ihnen allen zufrieden sein.

Bestimmte Grundregeln (Qawāʿid) können wir direkt dem Qur'an und der Sunnah entnehmen. Beispielsweise sagt Allah, der Erhabene:

„Übe Nachsicht, gebiete das Rechte und wende dich von den Unwissenden ab.“ (Surah al-A‘raf, 7:199)

Der obige Vers besteht aus drei Sätzen, die allesamt Prinzipien sind, welche die Grundlage für weitere Urteile der Šarīʿah bilden. Zum Beispiel beinhaltet der Befehl „Übe Nachsicht“ gleichzeitig Regelungen wie das Aufrechterhalten guter Beziehungen zu denjenigen, die diese abbrechen, denjenigen zu vergeben, welche Falsches tun und sich generell höflich zu verhalten.

In der Aussage „Wende dich von den Unwissenden ab“ steckt die Ermutigung, sich Wissen anzugeignen; sich nicht auf nutzlose Diskussionen einzulassen und Abstand zu nehmen von Unterdrückern usw.

Gleichermaßen sind viele solcher Prinzipien in den Hadith-Sammlungen vorhanden, die von unserem geliebten Gesandten Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) überliefert worden sind, insbesondere in den Hadithen, welche als „Perlen der Weisheit“ gelten.

Zum Beispiel:

a) „Alles, was berauscht, ist verboten (ḥarām).“ (Ṣaḥīḥ Muslim)

b) „Jede Vereinbarung, etwas zu verleihen, welche einen Profit für den Verleiher zur Folge hat, ist Riba (Zins).“ (Sunan al-Bayhaqī)

c) „Jede neu begonnene Sache ist eine Erneuerung, und jede Erneuerung ist eine Irreführung.“ (Sunan Abu Dāwūd)

d) „Jede Bedingung, die nicht im Buch Allahs steht, ist ungültig.“ (Ṣaḥīḥ al-Buẖārī)

e) „Jede gute Tat ist eine Spende (ṣadaqa).“ (Ṣaḥīḥ al-Buẖārī)

f) „Der Beweis ist vom Kläger zu erbringen, und der Angeklagte muss den Eid schwören.“ (Sunan at-Timiḏī)

g) „Das Hinauszögern (der Rückzahlung von Schulden) seitens einer wohlhabenden Person ist Unterdrückung.“ (Ṣaḥīḥ al-Buẖārī)

h) „Es gibt keinen Gehorsam gegenüber irgendeinem Geschöpf, solange darin Ungehorsam gegenüber dem Schöpfer enthalten ist.“ (Musnad Aḥmad)

Die allgemeinen Prinzipien in der Sunnah sind also zahlreich, und gemeinsam mit den Prinzipien des Qur'ans bilden sie das Fundament, auf welches die Fuqahā‘ die Qawāʿid stützen.

Die Fuqahā‘ formulieren außerdem ihre eigenen Qawāʿid (welche nicht explizit im Qur'an und in der Sunnah erwähnt werden) abgeleitet von Qur'an und Sunnah. Sie haben viele solcher Prinzipien formuliert, welche in zahlreichen Büchern zusammengestellt wurden. Gelehrte wie Ibn Nuǧaym in seinem „al-Ašbāh wa al-Naẓā'ir“, Abu Zaid ad-Dabūsī in seinem „Ta'sīs an-Naẓar“, Imam al-Karẖī in seinem „al-Uṣūl“ und al-‘Atāsī in seiner „al-Maǧallah“ haben allesamt viele Prinzipien der hanafitischen Rechtsschule zusammengetragen, die sich auf verschiedene Aspekte der Šarīʿah beziehen.

Ebenso werden „al-Furūq“ von Imam al-Qarafi (malikitische Rechtsschule), „Qawāʿid al-Aḥkām fi Maṣāliḥ al-Anām“ von ‘Izz ad-Dīn Ibn ‘Abd as-Salām (schafiitische Rechtsschule) und „al-Qawāʿid“ von Ibn Raǧab al-Ḥanbalī (hanbalitische Rechtsschule) als großartige Werke und Grundlagen dieser Wissenschaft betrachtet.

Kommen wir nun zu dem Prinzip, nach dem du gefragt hast, welches lautet: „Wenn jemand von zwei Übeln heimgesucht wird, so sollte er das kleinere der beiden wählen.“

Dieses allgemeine Prinzip wird in nahezu allen Büchern erwähnt, die zu dieser Wissenschaft geschrieben worden sind. Es handelt sich um ein Prinzip, das auf dem Konzept basiert, Sünden und Schaden so weit wie möglich zu vermeiden. Abgeleitet wurde dies von den generellen Richtlinien, die aus dem Qur'an und der Sunnah hervorgehen.

Allah, der Erhabene, sagt:

„Daher fürchtet Allah, soweit ihr könnt.“ (Surah al-Taghabun, 64:16)

In ähnlicher Weise sagt Allah, der Erhabene:

„Sie fragen dich nach dem Schutzmonat, danach, in ihm zu kämpfen. Sag: In ihm zu kämpfen ist schwerwiegend. Aber von Allahs Weg abzuhalten - und Ihn zu verleugnen -, und von der geschützten Gebetsstätte (abzuhalten) und deren Anwohner von ihr vertreiben, ist (noch) schwerwiegender bei Allah. Und Verfolgung ist schwerwiegender als Töten.“ (Surah al-Baqarah, 2:217)

In diesem Vers erwähnt Allah, der Erhabene, dass die Götzendiener aus Mekka die Muslime beschuldigten, entgegen ihrer Sitte gehandelt zu haben, indem sie während des geheiligten Monats in den Kampf zogen. Obwohl jedoch das Kämpfen im geheiligten Monat ein schwerer Verstoß ist, waren die Muslime dazu gezwungen, das kleinere von zwei Übeln zu wählen, da der Verzicht auf das Kämpfen dazu geführt hätte, dass der Feind seine Verfolgung der Muslime fortgesetzt hätte. Demnach wurden die Muslime dazu gezwungen zum Zwecke der Selbstverteidigung innerhalb dieser Zeitspanne zu kämpfen, entgegen ihrer eigenen Gefühle.

Im fünften Jahr der Hijra einigte sich der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) mit den Götzendienern aus Mekka auf einen Waffenstillstand, der als „Sulh al-Hudaybiyya“ bekannt ist. Der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) ging mit ihnen in vielen Punkten Kompromisse ein und verzichtete dabei auf die Rechte der Muslime. Es wurde vereinbart, dass Nichtmuslime, die ohne Erlaubnis ihrer Schutzherren nach Medina kamen, von den Muslimen zurückgeschickt werden mussten, während im umgekehrten Fall die Muslime nicht zurückgeschickt werden mussten, wenn sie ohne Erlaubnis ihrer Schutzherren zu den Quraischiten übergingen. Der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) stimmte dem zu, um das größere Übel in Form der zu erwartenden Folter der in Mekka verbliebenen Gläubigen zu verhindern und um ein unmittelbares Blutvergießen zu vermeiden. Hierbei wurde der langfristige Nutzen berücksichtigt.

Ein weiterer bekannter Vorfall ist der eines Beduinen, der erst kürzlich den Islam angenommen hatte. Dieser Mann kannte nicht die Verhaltensregeln in Bezug auf die Moschee und fing an, in ihr zu urinieren. Der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) hielt ihn nicht sofort auf, sondern wartete ab, bis der Mann sein Geschäft erledigt hatte und erklärte ihm dann auf höfliche Art und Weise, dass es unangebracht ist, im Haus Allahs zu urinieren. (Sahih Muslim)

Hier tolerierte der Gesandte Allahs (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) das kleinere Übel, indem er den ihn zu Ende urinieren ließ und damit zwei größere Übel verhinderte:

1) Ihn zu unterbrechen hätte dazu geführt, dass der Beduine urinierend herumgelaufen wäre, wodurch die gesamte Moschee verschmutzt worden wäre.

2) Ihn zurechtzuweisen hätte ihn möglicherweise vom Islam abschrecken und Hass in seinem Herzen hervorrufen können.

 

Einige Fragestellungen im Bereich der Rechtswissenschaft (Fiqh), bei denen dieses Prinzip Anwendung findet, sind folgende (entnommen aus Ibn Nuǧayms al-Ašbāh):

a) Falls man in einer Weise verwundet ist, dass beim Durchführen der Niederwerfung (Saǧdah) im Gebet Blut aus der Wunde austreten und fließen würde; das Blut aber nicht herausträte, wenn die Niederwerfung vermieden würde, so gilt: In dieser Situation sollte man sein Gebet im Sitzen mit angedeuteten Bewegungen verrichten, da das Weglassen der Saǧdah ein kleineres Übel ist, als das Verrichten des Gebets im Zustand der rituellen Unreinheit. Das Weglassen der Saǧdah ist in freiwilligen Gebeten bedingungslos erlaubt, während das Gebet niemals im Zustand der rituellen Unreinheit verrichtet werden darf.

b) Eine alte und kranke Person ist nicht in der Lage stehend (im Gebet) zu rezitieren, wäre aber dazu im Sitzen fähig. Die Regelung für einen solchen Fall lautet, dass die Person ihr Gebet im Sitzen verrichten und dabei rezitieren muss, da das Verrichten des Gebets im Sitzen ein kleineres Übel darstellt als das Unterlassen der Rezitation.

c) Ist man durch einen Notstand dazu gezwungen, verendetes Fleisch oder (unrechtmäßig) vom Vermögen einer anderen Person zu essen, dann sollte man das verendete und unerlaubte Fleisch essen, denn das Verzehren des verendeten Fleisches ist das kleinere der beiden Übel.

 

Und Allah weiß es am besten,

Muhammad Ibn Adam

Darul Iftaa

Leicester, UK 

 

Originalquelle: http://seekershub.org/ans-blog/2009/05/28/the-principle-of-choosing-the-...