
Darf man im (tarāwīḥ-)Gebet aus einem Koran-Exemplar (muṣḥaf) rezitieren?
Beantwortet von Mufti Muhammad Ibn Adam
FRAGE: Ich habe eine Frage zur Rezitation des Korans im Gebet, indem man dabei den Text ansieht. In einem Buch habe ich gelesen, dass das Gebet ungültig wird, wenn man beim Lesen auf den Text schaut. Stimmt das oder gibt es bestimmte Situationen, in denen so etwas erlaubt ist? Ist es erlaubt in nafl- (freiwilligen) oder tarāwīḥ-Gebeten?
ANTWORT: Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.
In der hanafitischen Rechtsschule gibt es zwei Meinungen bezüglich der Frage, ob man während des Gebets aus einem Buchexemplar des Korans (muṣḥaf) rezitieren darf.
Imam Abu Ḥanīfa (möge Allah sich seiner erbarmen), der Gründer dieser Rechtschule, vertritt die Meinung, dass es unzulässig ist, zu beten und dabei aus einem muṣḥaf abzulesen und zu rezitieren, oder von irgendeiner anderen Stelle, wie beispielsweise Koranverse, die in die Gebetsnische (miḥrāb) eingraviert sind. Diese Tat macht das Gebet ungültig, egal ob man als Imam (Vorbeter), Mitbetender oder alleine betet, und egal, ob es sich um ein verpflichtetes (farḍ), tarāwīḥ- oder freiwilliges (nafl) Gebet handelt.
Die zweite Meinung diesbezüglich vertreten die beiden Schüler des Imams – nämlich Imam Abu Yūsuf und Imam Muhammad Ibn al-Hasan asch-Schaybānī (möge Allah sich ihrer erbarmen). Ihrer Position nach ist das Gebet nicht ungültig, wenn aus einem Exemplar des Korans (muṣḥaf) rezitiert wird, wenngleich diese Praxis als verpönt (makrūh) gilt.
Im berühmten hanafitischen Fikh-Grundlehrbuch, Marāqī al-falāḥ, heißt es:
„(Zu den Dingen, die das Gebet ungültig machen) gehört es, etwas, das man nicht im Gedächtnis eingeprägt hat, aus einem muṣḥaf zu rezitieren, auch wenn man den muṣḥaf nicht in den Händen hält, da man hiermit durch einen äußeren Faktor beeinflusst wird. Wenn jedoch der Text im Gedächtnis eingeprägt ist und der muṣḥaf nicht in Händen gehalten wird, dann wird das Gebet nicht ungültig, da keine (übermäßigen) Bewegungen oder äußere Beeinflussung bestehen.“ (Marāqī al-falāḥ mit dem Kommentar von aṭ-Ṭaḥṭāwī, S. 336).
Imam al-Kāsānī (möge Allah sich seiner erbarmen) erklärt:
„Wenn jemand im Gebet aus einem muṣḥaf rezitiert, dann ist sein Gebet Imam Abu Ḥanīfa (möge Allah sich seiner erbarmen) zufolge ungültig. Imam Abu Yūsuf und Imam Muhammad zufolge ist sein Gebet jedoch gültig, obgleich die Handlung verpönt ist. Imam asch-Schāfiʿī (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt sogar, dass dies nicht verpönt ist.“ (Bada'i‘ as-sana'i‘, Bd. 1, S. 236).
Imam al-Ḥaṣkafī (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt:
„(Zu den Dingen, die das Gebet ungültig machen) gehört das Rezitieren aus einem muṣḥaf, sprich von jedwedem Gegenstand, auf dem ein Text aus dem Koran geschrieben steht, unter allen Umständen (muṭlaqan), da es einer Inspiration (von außen) gleichkommt, es sei denn, das Rezitierte ist im Gedächtnis eingeprägt und der muṣḥaf wird beim Rezitieren nicht gehalten. Und es wurde gesagt, dass das Gebet nicht ungültig wird, solange kein ganzer Vers rezitiert wird. [...]. Imam asch-Schāfiʿī betrachtet es (das Rezitieren aus einem muṣḥaf) als erlaubt, ohne dass es verpönt wäre; Imam Abu Yūsuf und Imam Muhammad betrachten es als erlaubt aber unerwünscht, da es eine Nachahmung der Leute der Schrift (ahl al-kitāb) darstellt. Gemeint ist, wenn jemand Nachahmung beabsichtigt […]“
Imam Ibn ʿĀbidīn (möge Allah sich seiner erbarmen), der Kommentator von al-Ḥaṣkafīs ad-Durr al-mukhtār, erklärt den oben zitierten Text, indem er sagt, dass das Ablesen von Koranversen aus einem muṣḥaf oder von irgendeiner anderen Stelle, wie beispielsweise der Gebetsnische (miḥrāb), das Gebet gemäß Imam Abu Ḥanīfa (möge Allah sich seiner erbarmen) ungültig macht, unabhängig davon, wieviel rezitiert wird und ob jemand als Imam (Vorbeter) oder alleine betet.
Weiterhin erklärt er, dass es grundsätzlich zwei Gründe für die Position von Abu Ḥanīfa gibt: Erstens, dass es übermäßige nicht zum Gebet gehörige Bewegung (ʿamal al-kathīr) darstellt, einen muṣḥaf in den Händen zu halten, abzulesen und die Seiten umzublättern. Zweitens, dass das Rezitieren aus einem muṣḥaf zur Annahme von äußerer Beeinflussung (talaqqī) führt, und dies so ist, als ob die Koranrezitation während des Gebets von einer anderen Person beeinflusst wird.
Auf der Grundlage der zweiten Begründung, sagt er, dass das Gebet ungültig wird, unabhängig davon, ob man einen muṣḥaf in Händen hält oder nicht, wohingegen bei der ersten Begründung unterschieden wird, ob der muṣḥaf in Händen gehalten oder an einer Stelle platziert wird. Die zweite Begründung ist korrekter. Daher wird das Gebet, ungeachtet ob jemand einen muṣḥaf hält und Seiten umblättert oder nicht, ungültig.
Die einzige Ausnahme ist die Situation, in der man Verse aus dem Koran aus dem Gedächtnis heraus rezitiert, und den muṣḥaf lediglich offen vor sich stehen hat. Der Grund ist, dass die Rezitation primär auf dem Gedächtnis beruht und nicht auf dem Einfluss des muṣḥafs.
Er fügt hinzu, dass einige hanafitische Rechtsgelehrte das Gebet erst dann als ungültig erachten, wenn ein Text von der Länge der Sure al-Fātiḥa rezitiert wurde. Andere hingegen betrachten das Gebet dann als ungültig, wenn ein ganzer Vers aus dem muṣḥaf rezitiert wurde. Letzteres ist seiner Ansicht nach die korrektere Position (Siehe: Radd al-muḥtār ʿalā ad-durr al-mukhtār, Bd. 1, S. 624)
Imam Badr ad-Dīn al-ʿAynī (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt in seinem Kommentar zu Ṣaḥīḥ al-bukhārī mit dem Titel ʿUmdat al-qārīʾ:
„Das Rezitieren aus einem muṣḥaf macht das Gebet nach Imam Abu Ḥanīfa (möge Allah sich seiner erbarmen) zufolge ungültig, weil es zu übermäßiger Bewegung zählt. Laut Imam Abu Yūsuf und Imam Muhammad (möge Allah sich ihrer erbarmen) hingegen ist es erlaubt, da die Rezitation mittels Ablesen aus einem muṣḥaf eine Form von Anbetung (ʿibāda) darstellt. Dennoch ist es verpönt, weil es eine Nachahmung der Leute der Schrift ist. Diese Position [dass es erlaubt sei] ist auch die Position von Imam asch-Schāfiʿī und Imam Ahmad (möge Allah sich ihrer erbarmen); und nach Imam Malik (möge Allah sich seiner erbarmen) werden freiwillige (nafl) Gebete durch das Rezitieren aus einem muṣḥaf nicht ungültig. (ʿUmdat al-qārīʾ Ṣaḥīḥ al-bukhārī , Bd. 4, S. 314)
Im Anbetracht des bereits Gesagten bleibt es in der hanafitischen Rechtsschule unzulässig, aus einem Buchexemplar (muṣḥaf) des Korans zu rezitieren, egal ob in einem farḍ- (Pflicht-), tarāwīḥ- oder nafl- (freiwilligen) Gebet. Wenn jemand so handelt, egal ob er als Imam oder alleine betet, so ist sein Gebet gemäß der Position von Imam Abu Ḥanīfa (möge Allah sich seiner erbarmen) ungültig. Die klassischen hanafitischen Fikh-Grundlehrbücher (mutūn), wie Marāqī al-falāḥ, übernehmen die Position von Abu Ḥanīfa und betrachten das Rezitieren aus einem muṣḥaf als eine Handlung, die das Gebet ungültig macht.
Beweise
Der grundlegendste Beweis für diese Position der Hanafiten ist, dass es mehrere Hadithe (prophetische Überlieferungen) gibt, nach denen jemand, der unfähig ist, den Koran aus dem Gedächtnis heraus zu rezitieren, vom Gesandten Allahs ﷺ unterwiesen wurde, Allah im Gebet zu verherrlichen (tasbīḥ) und Ihn zu lobpreisen (ḥamd), anstatt aus einem muṣḥaf zu rezitieren.
Sayyiduna Rifāʿa ibn Rāfiʿ (möge Allah sich seiner erbarmen) berichtet, dass der Gesandte Allahs ﷺ zu einem Mann, während er ihn lehrte, das Gebet zu verrichten, sagte: „[…] Wenn du dann Stellen aus dem Koran auswendig gelernt hast, rezitiere sie, ansonsten verherrliche Allah, den Erhabenen und sprich den takbīr und den tahlīl (‚la ila ha illallah‘) […]“ (Sunan abī dāwūd, Nr. 857 und Sunan at-tirmidhī, Nr. 302)
Sayyiduna ʿAbdullāh ibn Abī ʿAwfā (möge Allah mit ihm zufrieden sein) berichtet, dass ein Mann zum Gesandten Allahs ﷺ kam und sagte: „Ich kann nichts aus dem Koran auswendig lernen; so lehre mich etwas, das mir genügt.“ Er ﷺ sagte: „Sag: ‚Gepriesen sei Allah‘, ‚alles Lob gebührt Allah‘, ‚es gibt keinen Gott außer Allah‘, ‚Allah ist der Größte‘ und ‚es gibt keine Macht oder Kraft, die etwas bewirkt, außer durch Allah‘.“ Er antwortete: „O Gesandter Allahs! Das ist für Allah, aber was ist für mich?“ Er sagte: „Sag: ‚O Allah! Erbarme dich meiner, versorge mich, bewahre mich und leite mich recht.‘“ Als er aufstand, machte er ein Zeichen mit seiner Hand (um zu zeigen, dass er viel erhalten hat). Der Gesandte Allahs ﷺ sagte: „Dieser Mann hat seine Hände mit Gutem gefüllt.“ (Sunan abī dāwūd, Nr. 828 und Sunan an-nasāʾī, Nr. 795).
Imam Zafar Aḥmad ʿUthmānī (möge Allah sich seiner erbarmen) sagt in seinem Iʿlā as-sunan, dass diese beiden Hadithe (prophetische Überlieferungen) darauf hindeuten, dass jeder, der in der Lage ist, Koranverse aus dem Gedächtnis zu rezitieren, so viel wie notwendig rezitieren muss. Wenn man allerdings nicht in der Lage ist, den für das Gebet notwendigen Umfang aus dem Koran auswendig zu lernen, dann greift man auf Gedenk- und Preisformeln (dhikr) zurück. Wäre das Rezitieren aus einem muṣḥaf erlaubt, hätten die Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) es als notwendig beurteilt und der Gesandte Allahs ﷺ hätte es angeordnet, denn auf dhikr zurückzugreifen wäre nur eine Alternative für diejenigen gewesen, die nicht einmal aus einem muṣḥaf ablesen können. Das zeigt eindeutig, dass das Rezitieren aus einem muṣḥaf keine ‚zulässige‘ Rezitation ist, mit der das Gebet als gültig beurteilt werden kann. (Siehe: Iʿlā as-sunan, Bd. 5, S. 59-60).
Wie zuvor erwähnt, ist es nach der schāfiʿītischen und ḥanbalitischen Rechtschule erlaubt, in farḍ- (Pflicht-) und nafl- (freiwilligen) Gebeten aus einem muṣḥaf zu rezitieren, egal ob man den rezitierten Teil auswendig kann oder nicht. Nach Imam Malik ist dies in nafl- und tarāwīḥ-Gebeten erlaubt. (Siehe: al-Maǧmūʿ von Imam an-Nawawī und Kaschschāf al-qināʿ von al-Bahūtī, Bd. 1, S. 361)
Ihr Beweis ist der von Imam al-Bukhārī in seinem ṣaḥīḥ ohne Überlieferungskette (muʿallaqan) überlieferte Bericht dass „Sayyida ʿĀʾischa (möge Allah mit ihr zufrieden sein) hinter ihrem Sklaven Zakwān zu beten pflegte, der aus einem muṣḥaf rezitierte.“ (Ṣaḥīḥ al-bukhārī, Bd. 1, S. 245 und Fatḥ al-bārī, Bd. 2, S. 239)
Die hanafitischen Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) haben verschiedene Erklärungen für diese Überlieferung:
a) Imam Zafar Aḥmad ʿUthmānī erklärt, dass Zakwān den rezitierten Teil eigentlich auswendig konnte und dass das Rezitieren aus einem muṣḥaf (gemäß der Hanafiten) nur mit der Bedingung unzulässig ist, dass der Rezitierende das im Gebet Rezitierte nicht im Gedächtnis hat. Daher war Zakwāns Rezitation nicht abhängig von äußeren Einflüssen, sondern beruhte vielmehr auf seinem eigenen Gedächtnis. Trotzdem ließ er den muṣḥaf als Gedächtnisstütze für ein oder zwei Wörter offen liegen, was das Gebet nicht ungültig macht. (Siehe: Iʿlā as-sunan, Bd. 5, S. 61)
b) Imam Badr ad-Dīn al-ʿAynī erklärt die Bedeutung dieser Überlieferung in seinem Kommentar zu al-Hidāya dahingehend, dass Zakwān vor dem Beginn des Gebets Teile des Korans aus dem muṣḥaf rezitierte und sich einprägte. Danach stand er auf, begann sein Gebet und rezitierte das gerade Gelernte aus seinem Gedächtnis. (al-Bināya fī scharḥ al-hidāya, Bd. 2, S. 427)
c) Imam al-Kāsānī sagt in seinem Badāʾiʿ as-ṣanāʾiʿ, es sei möglich, dass in diesem Bericht zwei unterschiedliche Zustände erwähnt wurden, sprich Zakwān leitete das Gebet, und außerhalb des Gebets rezitierte er aus dem muṣḥaf. (Badāʾiʿ as-ṣanāʾiʿ, Bd. 1, S. 236)
Abschließend sei dennoch gesagt: Dies ist eine Angelegenheit, in der die Rechtsgelehrten der vier sunnitischen Schulen des islamischen Rechts unterschiedliche Meinungen vertraten. Die hanafitische Schule erlaubt es nicht, während dem Gebet aus einem Koranexemplar (muṣḥaf) zu rezitieren, mit der Position Imam Abu Ḥanīfas, dass das Gebet ungültig wird, wenn man dies tut. Die anderen Imame haben diese Praxis erlaubt, aber man sollte vorsichtig sein, nicht zu viele Bewegungen zu machen, während man den muṣḥaf hält, da diese das Gebet auch ihnen zufolge ungültig machen könnten.
Zuletzt sei gesagt, dass nach hanafitischer Rechtsschule das Gebet hinter einem Imam, der aus einem muṣḥaf rezitiert, auch für seine Mitbetenden ungültig wird. Daher sollte man es vermeiden, das Gebet hinter einem Imam zu verrichten, der dieser Praxis folgt. Jedoch kann dies in gemischten Gemeinden mit vielen Nicht-Hanafiten, in denen diese Praktiken üblich sind, schwer zu bewerkstelligen sein. In solchen Fällen, kann man hinter einem schāfiʿītischen oder hanbalitischen Imam beten, welcher aus einem Buchexemplar des Korans rezitiert, und dabei der Position von Imam Abu Yūsuf und Imam Muhammad (möge Allah sich ihrer erbarmen) folgen. Dies ist eher im Sinne der Einheit und trägt dazu bei, fitna (Zwietracht) zu vermeiden.
Und Allah weiß es am besten.
Muhammad Ibn Adam
Darul Iftaa
Leicester, UK
Originalquelle: http://seekershub.org/ans-blog/2009/06/18/reciting-from-a-copy-of-the-qu...ṣḥaf-intarāwīḥ-and-other-prayers/
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