Datum: 
01.12.2018

Frage: As-salāmu ʿalaykum.

 

Ich verstehe das Konzept der Aufhebung (nas) nicht, wenn nas sich speziell auf das Konzept des „Auslöschens“ von Qurʾānversen bezieht.

Beruht unser Glaube als Muslime denn nicht darin, dass der Qurʾān eine einzigartige perfekte Schrift ist, welche von Gott herabgesandt wurde; dass Sein Wort unveränderbar ist; das gesamte Wunder des Qurʾān darin besteht, dass dieser ein einzelnes, unveränderbares und geschütztes Buch ist? Wie kann es sein, dass Gott einige Teile des Qurʾān „zurückgezogen“ hat, indem Er sie „auslöscht“?

 

Beantwortet von Ustāḏ Šuʿayb Ally: As-salāmu ʿalaykum wa-raḥmaṭullāhi wa-barakātuhu,

 

ich hoffe, dass dich diese Nachricht im guten Zustand erreicht.

 

Die Arten der Qurʾānaufhebung

 

Im Gebiet der Qurʾānwissenschaften wird der nas in Bezug auf Qurʾān auf drei mögliche Arten verstanden:

  1. Sowohl die Rezitation als auch die daraus resultierenden Norm sind aufgehoben,
  2. Die Rezitation ist aufgehoben, aber die Norm nicht,
  3. Die Rezitation ist nicht aufgehoben, jedoch die Norm.

 

Die Aufhebung der Norm allein

 

Das dritte Szenario, welches du erwähntest, ist die offensichtlichste Form des nas. Beispiele werden üblicherweise nur bei dieser Art der Aufhebung aufgezeigt. Die Gründe für diese Form der Aufhebung hinsichtlich des Qurʾān sind auch schnell ersichtlich. Sie beinhalten Erwägungen des Erleichterns von Geboten und Verboten für die frühe (muslimische) Gemeinde, und legen dabei Regeln auf, welche den Umständen entsprechen, den Gehorsam prüfen und dergleichen.

Die Aufhebung der Rezitation sowie der Regelung

 

Die erste und zweite der oben erwähnten Arten, ähnlich der Aufhebung oder des Wegfalls, sind keine offensichtlichen Formen des nas. Der Grund für ihr Auftreten ist nicht direkt ersichtlich. Jedoch hat die Forschung hinsichtlich dieses Bereiches folgendes festgehalten:

  1. Ihr Vorkommen ist rational gesehen nicht unmöglich. Gott kann, je nach dem, was Er als angemessen ansieht, etwas offenbaren und anschließend bewirken, dass Abschnitte durch anderes ersetzt werden: sei es durch Aufhebung oder dadurch, dass Er sie in Vergessenheit geraten lässt.
  2. Es gibt authentische Überlieferungen, welche darauf deuten, dass dies vorkam (etwa die Überlieferung, welche du bezüglich der Sūre al-Aḥzāb angeführt hast).

Beides zusammen bewog die Gelehrten der Qurʾānwissenschaften dazu, diese Form des nas in Betracht zu ziehen sich auf das zu begrenzen, was durch Belege beweisbar ist – dass es aufgetreten zu sein scheint – und die Grunde dahinter Gott zu überlassen.

 

Konsequenzen für die göttliche Natur des Textes

 

Die Gelehrten waren jedoch der Auffassung, dass die perfekte Natur des empfangenen Textes durch das Aufhaben von Versen oder Abschnitten nicht in Frage gestellt wird: es gab, da nie beabsichtigt war, dass sie ein Teil der endgültigen Schrift sein sollten. Aufgrund dessen, wird der Qurʾān nicht als etwas betrachtet, in dem etwas fehlt, er nicht komplett sei oder in irgendeiner Hinsicht mangelhaft.

Sie verknüpften die Feststellung des göttlichen Ursprungs des Korans nie an die Bedingung, dass er nie von Gott geändert würde. Gott deutete darauf hin, dass Er ihn [d.h. den Qurʾān] von äußerlichem Einfluss beschützen wird, jedoch Er Selbst frei gestellt ist, mit dem Qurʾān das zu tun, was Er möchte.

 

Konsequenzen für die Attribute Gottes

 

Gelehrte betrachteten solche Veränderungen auch nie als Widerspruch zur Perfektion der Attribute Gottes. Eher sahen sie diese als eine Reflektion Seiner Allmacht, in welcher Er mit Seiner Offenbarung das tun kann, was Er möchte. Sie verstanden es auch nicht als ein Verstoß gegen Seine Allwissenheit, da Er sich stets dessen bewusst war, dass diese Verse vor ihrem Eintreffen zurückgezogen oder in Vergessenheit geraten lassen würden.

 

Quellen:

al-Itqān, az-Ziyādah wa l-isān, Manāil al-ʿirfān.