Frage: As-salāmu ʿalaikum.
Ich verstehe das Konzept der Aufhebung (nasẖ) nicht, wenn nasẖ sich speziell auf das Konzept des ‚Auslöschens‘ von Koranversen bezieht.
Beruht unser Glaube als Muslime denn nicht darin, dass der Koran eine einzigartige perfekte Schrift ist, die von Gott herabgesandt wurde; dass Sein Wort unveränderbar ist und dass das gesamte Wunder des Korans darin besteht, dass dieser ein einzelnes, unveränderbares und geschütztes Buch ist? Wie kann es sein, dass Gott einige Teile des Korans ‚zurückgezogen‘ hat, indem Er sie ‚löscht‘?
Beantwortet von Ustādh Schuʿayb Ally: As-salāmu ʿalaikum wa-raḥmaṭullāhi wa-barakātuhu,
ich hoffe, dass dich diese Nachricht im guten Zustand erreicht.
Die Arten der Koranaufhebung
Im Gebiet der Koranwissenschaften wird der nasẖ in Bezug auf den Koran auf drei mögliche Arten verstanden:
- Sowohl die Rezitation als auch die daraus resultierende Norm sind aufgehoben;
- die Rezitation ist aufgehoben, aber die Norm nicht;
- die Rezitation ist nicht aufgehoben, jedoch die Norm.
Die Aufhebung der Norm allein
Das dritte Szenario, das du erwähntest, ist die offensichtlichste Form des nasẖ. Beispiele werden üblicherweise nur bei dieser Art der Aufhebung aufgezeigt. Die Gründe für diese Form der Aufhebung hinsichtlich des Korans sind auch schnell ersichtlich. Sie beinhalten Erwägungen des Erleichterns von Geboten und Verboten für die frühe (muslimische) Gemeinde und legen dabei Regeln auf, die den Umständen entsprechen, den Gehorsam prüfen und dergleichen.
Die Aufhebung der Rezitation sowie der Regelung
Die erste und zweite der oben erwähnten Arten, ähnlich der Aufhebung oder des Wegfalls, sind keine offensichtlichen Formen des nasẖ. Der Grund für ihr Auftreten ist nicht direkt ersichtlich. Jedoch hat die Forschung hinsichtlich dieses Bereiches Folgendes festgehalten:
- Ihr Vorkommen ist rational gesehen nicht unmöglich. Gott kann, je nach dem, was Er als angemessen ansieht, etwas offenbaren und anschließend bewirken, dass Abschnitte durch andere ersetzt werden: sei es durch Aufhebung oder dadurch, dass Er sie in Vergessenheit geraten lässt.
- Es gibt authentische Überlieferungen, in denen darauf gedeutet wird, dass dies vorkam (etwa die Überlieferung, die du bezüglich der Sure al-Aḥzāb angeführt hast).
Beides zusammen bewog die Gelehrten der Koranwissenschaften dazu, diese Form des nasẖ in Betracht zu ziehen sich auf das zu begrenzen, was durch Belege beweisbar ist – dass es aufgetreten zu sein scheint – und die Grunde dahinter Gott zu überlassen.
Konsequenzen für die göttliche Natur des Textes
Die Gelehrten waren jedoch der Auffassung, dass die perfekte Natur des empfangenen Textes durch das Aufheben von Versen oder Abschnitten nicht in Frage gestellt wird: Diese Aufhebungen wurden von Gott veranlasst, da nie beabsichtigt war, dass die jeweiligen Passagen ein Teil der endgültigen Schrift sein sollten. In diesem Kontext wird der Koran keineswegs als eine Offenbarung betrachtet, in der etwas fehlt, die nicht komplett oder in irgendeiner Hinsicht mangelhaft sei.
Die Gelehrten verknüpften die Feststellung des göttlichen Ursprungs des Korans nie an die Bedingung, dass er nie von Gott geändert würde. Gott deutete darauf hin, dass Er ihn (d. h. den Koran) von äußerlichem Einfluss beschützen wird, jedoch Er Selbst frei gestellt ist, mit dem Koran das zu tun, was Er möchte.
Konsequenzen für die Attribute Gottes
Gelehrte betrachteten solche Veränderungen auch nie als Widerspruch zur Perfektion der Attribute Gottes. Eher sahen sie diese als eine Reflexion Seiner Allmacht, in der Er mit Seiner Offenbarung das tun kann, was Er möchte. Sie verstanden sie auch nicht als Verstoß gegen Seine Allwissenheit, da Er sich stets dessen bewusst war, dass diese Verse vor ihrem Eintreffen zurückgezogen oder in Vergessenheit geraten lassen würden.
Quellen:
al-Itqān, az-Ziyāda wa l-iḥsān, Manāḥil al-ʿirfān.