Welche der vier orthodoxen Rechtsschulen (madhhab, Pl.: madhāhib) ist für Muslime, die als Minderheit leben, am ehesten geeignet?
Beantwortet von Schaikh Nuh Ha Mim Keller
Frage: Welche der vier orthodoxen Rechtsschulen (madhhab, Pl.: madhāhib) gilt für Muslime, die als Minderheit leben, als am ehesten geeignet?
Antwort: Meine erste Erfahrung mit der Disziplin des fiqh al-aqalliyāt oder der Jurisprudenz für [muslimische] Minderheiten machte ich in einer Diskussion letzten Jahres mit Dr. Taha Jabir al-Alwani am Internationalen Institut für Islamisches Denken in Herndon, Virginia. Seinen Aussagen entnahm ich, dass es sich hierbei um eine neue Epoche islamischer Jurisprudenz handelte oder eher einen neuen Namen für eine alte Epoche der Jurisprudenz, die gewöhnlich als fiqh an-nawāzil oder Jurisprudenz schwieriger Ereignisse bezeichnet wurde. Die malikitische Rechtsschule (madhhab) hat u. a. die bekannteste Literatur dafür. Eventuell ist dies so aufgrund ihrer Erfahrung mit der überwiegend malikitischen Bevölkerung im muslimischen Westen nach dem Verlust von Anadalusien (dem islamischen Spanien) unter der Herrschaft den Christen. Es gab verschiedene Werke, etwa im Hinblick auf nawāzil ahl al-qurṭuba bzw. „bedeutende Ereignisse der Leute aus Cordoba“ oder die „nawāzil von dieser und jener Stadt“ usw. Ihre Gelehrten erließen fatāwa (Sg.: Fatwa – die legal rechtlich islamische Meinung eines Rechtsgelehrten) bezüglich dessen, was die Muslime rechtlich gesehen in bestimmten Umständen machen dürfen und sollen. Unter anderem gibt es das zwölfbändige Werk des malikitischen Gelehrten Aḥmad al-Wanschirīsī al-Miʿyār al-muʿrib ʿan fatāwa ʿulamā‘ ifrīqiya wa-l-andalus wa-l-maghrib [der Maßstab, der die Fatāwa der tunesischen, andalusischen und marokkanischen Gelehrten darlegt].
Gleichermaßen finden wir ähnliche Fatwa-Kategorien in der hanafitischen Rechtsschule, etwa im bekannten Kommentar (ḥāschiya) von Ibn ʿabidīn zu Ḥaṣkafīs ad-Durr al-mukhtār [Die ausgewählten Perlen] oder al-Fatāwa al-hindiya [Die Fatwas Indiens]. In der juristischen Rubrik der „mā taʿummu bihī al-balwa“ (das, was sich an Übel verbreitet hat) werden Umstände beschrieben, die nicht mit den rechtlichen Vorgaben vereinbar sind, aber notwendigerweise so viele Menschen betreffen, dass es für sie aufgrund der unten erwähnten Gründe gestattet werden muss. Die hanafitische Schule ist speziell in solchen rechtlichen Anwendungen sehr reichhaltig ausgestattet, da sie im Laufe der islamischen Geschichte für die Mehrheit der Muslime die dominante bzw. am meisten angewendete Rechtsschule darstellte. Als Beispiel können das abbasidische und osmanische Zeitalter herangezogen werden. Die Muftis [zu dieser Zeit] wandten sie in sehr vielen Situationen und an vielen unterschiedlichen Orten an.
Wie ist es möglich, dass die Gesetzgebung Allahs von Ort zu Ort variiert?
Eine qualifizierte Antwort findet man im islamrechtlichen Konzept der ḍarūra, also des ‚lebenswichtigen Nutzens‘, der unter zwingenden Umständen zuweilen die Regeln des islamischen Rechts beeinflusst. Obwohl das grundlegende Prinzip des islamischen Rechts für alle Zeiten und Orte gültig ist, schreibt Allah in Seiner göttlichen Weisheit in der Sure al-Ḥaǧǧ vor:
«Er hat euch erwählt und hat euch nichts auferlegt, was euch in der Religion bedrücken könnte.» (al-Ḥaǧǧ, 22:78)
(…) Der Vers meint nicht, dass es absolut keine Mühsal in der Religion geben wird, sondern negiert lediglich die Erschwernis der Angelegenheiten, die über die Kraft der Muslime hinausgeht – wenn diese ihnen kontinuierlich in ihren notwendigen Nutzen, wie etwa ihrer Religion, Person oder ihrem Besitz belasten würde oder Schaden zufügen könnte.
Dies bedeutet für alle als Minderheit lebenden Muslime sowie für andere, dass manchmal besondere rechtliche Bestimmungen ausgeübt werden können, wenn solche Ausnahmen im Gegensatz zu den normalen Regeln eine ḍarūra bzw. einen ‚lebensnotwendigen Nutzen‘ bilden und vor einer Beeinträchtigung schützen würden. Zu den Nutzen, die im uṣūl al-fiqh üblich aufgezählt werden, gehören folgende fünf:
Religion (dīn), Leben (nafs), Nachkommen (nasl), Besitz (māl) und Vernunft (ʿaql).
Der Einfluss rechtlicher Bestimmungen auf diesen notwendigen Nutzen könnte sich unter speziellen Umständen von Ländern mit Muslimen als Minderheiten von denjenigen mit Muslimen als Mehrheitsbevölkerung unterscheiden.
In der modernen Jurisprudenz zum Thema Minderheiten wurde versucht, in solchen Ausnahmefällen bzw. -zuständen früh erlassene Fatwas zu analysieren, die Nutzen zu identifizieren, mit denen sie erlassen wurden, und die Anwendung der methodologischen Prinzipien der islamischen Jurisprudenz (al-qawāʾid al-fiqhiya) in Hinblick auf die Primärtexte aus Koran und Sunna als Rechtsbeweise für heute relevante Schlüsse zu untersuchen. Diesbezüglich ist besonders hervorzuheben, dass Fatwas entsprechend Zeit, Ort und Person, für die sie erlassen werden, sowie in Anbetracht der menschlichen Vor- und Nachteile, die die Rechtsgebung berücksichtigen muss, variieren, da diese universell an jedem Ort und zu jeder Zeit anwendbar sein muss.
Beispielsweise wies ich Dr. Taha bezüglich der Frage, ob Muslime in westlichen Ländern leben dürfen oder nicht, darauf hin, dass al-Wanschirīsī in seinem Miʿyār al-muʿrib die eines marokkanischen Gelehrten erlassene Fatwa erwähnt. Da heißt es, dass es nach dem Fall von Anadalusien Muslimen nicht gestattet gewesen war, in einem nichtmuslimischen Land (in dem die Scharia nicht herrscht) auch nur „für eine Stunde oder einen Tag“ zu verweilen. Er entgegnete, dass solche Fatwas im Hinblick auf den Bedarf nach dem muslimischen Gemeinwesen erlassen wurden, um alle Verbindungen und Wege der Kompromissfindungen mit den nichtmuslimischen Besatzern zu verhindern. Dies war auch das Hauptinteresse, so Taha, in den Fatwas der malikitischen Gelehrten zu Beginn dieses Jahrhunderts, in denen es nordafrikanischen Muslimen verboten wurde, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dies war nämlich eine Zeit, in der Frankreich die Vorherrschaft in der Region zu stärken versuchte, indem man Muslimen Staatsangehörigkeit und Pässe anbot.
Heutzutage jedoch verfügen in Frankreich und woanders lebende Nordafrikaner sehr wohl über eine gültige Notwendigkeit für die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit.
Wir sollten unter den anderen oben erwähnten Punkten nicht vergessen, dass die Erlassung einer Fatwa gemäß der oben angeführten Ausnahmeregelungen (oder der Interpretation der vorliegenden Relevanz früherer Fatwas, die unter solchen außergewöhnlichen Umständen gegeben wurden) einen zum iǧtihād (Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung) qualifizierten Mufti erfordert. An einer anderen Stelle habe ich die zu benötigenden Qualifikationen für solche Gelehrten bereits erwähnt und auch, wie selten es sie gibt. Für alle anderen wäre das Erlassen einer Fatwa nur ein Weg ins Verderben.
Außerdem darf die angenommene Ausnahme, die anerkannt wurde, um einen ‚lebensnotwendigen Nutzen‘ (ḍarūra) zu erfüllen, das notwendige Minimum nicht überschreiten, was zu berücksichtigen ist, um Schaden an diesem Nutzen selbst zu vermeiden.