Datum: 
09.12.2015
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Welche der vier orthodoxen Rechtsschulen (madhhab, Pl.: madhahib) gilt als die entwickelteste für die Muslime, welche als Minderheiten leben?

Beantwortet von Shaykh Nuh Ha Mim Keller

FRAGE: Welche der vier orthodoxen Rechtsschulen (madhhab, Pl.: madhahib) gilt als die entwickelteste für die Muslime, welche als Minderheiten leben?
 

ANTWORT: Meine erste Erfahrung mit fiqh al-ʿaqalliyat oder der Jurisprudenz für [muslimische] Minderheiten machte ich in einer Diskussion letzten Jahres mit Dr. Taha Jabir al-Alwani am Internationalen Institut für Islamisches Denken in Herndon, Virginia. Seinen Aussagen entnahm ich, dass es sich um eine neue Epoche islamischer Jurisprudenz handelt, oder eher ein neuer Name für eine alte Epoche der Jurisprudenz, welche gewöhnlich als fiqh an-nawazil oder Jurisprudenz schwieriger Ereignisse bezeichnet wurde. Der malikitische Madhhab (Rechtsschule) hat u.a. die bekannteste Literatur dafür. Eventuell ist dies so aufgrund ihrer Erfahrung mit der überwiegend malikitischen Bevölkerung im muslimischen Westen nach dem Verlust von Anadalus (Islamisches Spanien) unter (der Herrschaft) den Christen. Es gab Werke, etwa bzgl. Nawazil ahl al-qurtuba, oder "bedeutende Ereignisse der Leute aus Kordoba", die ,,nawazil von dieser und jener Stadt" usw. Ihre Gelehrten erließen Fatawa (Sg.: Fatwa - die legal rechtlich islamische Meinung eines Rechtgelehrten) bezüglich dessen, was die Muslime rechtlich gesehen in bestimmten Umständen machen dürfen und sollen. Unter anderem gibt es das zwölfbändige Werk des malikitischen Gelehrten Ahmad al-Wanshirisi ,,al-Miyar al-mughrib ʿan fatawa ʿulama‘ ifriqiyah wa-l-andalus wa-l-maghrib" [Maßstab, welcher die Fatawa der tunesischen, andalusischen und marokkanischen Gelehrten darlegt].

Gleichermaßen finden wir ähnliche Fatwa-Kategorien in der hanafitischen Rechtsschule, etwa im bekannten Hašiyah [Kommentar] von Ibn ʿabidin zu Haskafis ,,ad-Durr al-muẖtar" [Die ausgewählten Perlen] oder al-fatawa al-hindiya [Die Fatwas Indiens]. In der juristischen Rubrik der ,,ma taʿummu bihi al-balwa“ (Das, was sich an Übel verbreitet hat) werden Umstände beschrieben, welche nicht mit den rechtlichen Vorgaben vereinbar sind, aber notwendigerweise so viele Menschen betreffen, dass es für sie aufgrund der unten erwähnten Gründe gestattet werden muss. Die hanafitische Schule ist speziell in solchen rechtlichen Anwendungen sehr reichhaltig ausgestattet, da sie im Laufe der islamischen Geschichte für die Mehrheit der Muslime die dominante bzw. am meisten angewendete Rechtsschule darstellte. Als Beispiel können das abbasidische und osmanische Zeitalter herangezogen werden. Die Muftis [zu dieser Zeit] wandten sie in sehr vielen Situationen und an vielen unterschiedlichen Orten an.

Wie ist es möglich, dass die Gesetzgebung Allahs von Ort zu Ort variiert?

Eine qualifizierte Antwort findet man im islamrechtlichen Konzept der darura, also des "lebenswichtigen Nutzen", welcher unter zwingenden Umständen zuweilen die Regeln des islamischen Rechts beeinflusst. Obwohl das grundlegende Prinzip des islamischen Rechts für alle Zeiten und Orte gültig ist, schreibt Allah in Seiner göttlichen Weisheit in der Sure al-Hajj vor:

,,Er hat euch erwählt und hat euch nichts auferlegt, was euch in der Religion bedrücken könnte.“ (Qur'an 22:78)

(…) Der Vers meint nicht, dass es absolut keine Mühsal in der Religion geben wird, sondern negiert lediglich die Erschwernis der Angelegenheiten, welche über die Kraft der Muslime hinausgeht - wenn diese ihnen kontinuierlich in ihren notwendigen Nutzen, wie etwa ihrer Religion, Person oder ihrem Besitz belasten würde, Schaden zufügen könnte.

Dies bedeutet für alle als Minderheit lebenden Muslime sowie für andere, dass besondere rechtliche Bestimmungen manchmal ausgeübt werden können, wenn solche Ausnahmen im Gegensatz zu den normalen Regeln eine Darura bzw. einen ,,lebensnotwendigen Nutzen" vor einer Beeinträchtigung schützen würden. Zu den Nutzen, welche im Usul al-fiqh üblich aufgezählt werden, gehören folgende fünf:
Religion (din), Leben (nafs), Nachkommen (nasl), Besitz (mal) und Vernunft (ʿaql).

Der Einfluss rechtlicher Bestimmungen auf diesen notwendigen Nutzen könnte sich unter speziellen Umständen möglicherweise von Ländern mit Muslimen als Minderheiten von denjenigen mit Muslimen als Mehrheitsbevölkerung unterscheiden.

In der modernen Jurisprudenz zum Thema Minderheiten wurde versucht, in solchen Ausnahmefällen bzw. -zuständen früh erlassene Fatawa zu analysieren, die Nutzen, mit welchen sie erlassen wurden, zu identifizieren, die Anwendung der methodologischen Prinzipien der islamischen Jurisprudenz (al-qawa'id al-fiqhiyyah) in Hinblick auf die Primärtexte aus Quran und Sunnah als Rechtsbeweise in Bezug auf heute relevante Schlüsse zu untersuchen. Diesbezüglich ist besonders hervorzuheben, dass Fatawa entsprechend Zeit, Ort und Person, für welche sie erlassen werden, sowie in Anbetracht der menschlichen Vor- und Nachteile, welche die Rechtsgebung berücksichtigen muss, variieren, da diese universell an jedem Ort und zu jeder Zeit anwendbar sein muss.

Beispielsweise wies ich Dr. Taha bezüglich der Frage, ob Muslime in westlichen Ländern leben dürfen oder nicht, darauf hin, dass Al-Wanshirisi in seinem Miyar al-Mughrib die eines marokkanischen Gelehrten erlassene Fatwa erwähnt. Da heißt es, dass es nach dem Fall von Anadalusien Muslimen nicht gestattet gewesen war, in einem nichtmuslimischen Land (in welchem die Schari'a nicht herrscht) auch nur "für eine Stunde oder einen Tag" zu verweilen. Er entgegnete, dass solche Fatawa in Hinblick auf den Bedarf nach dem muslimischen Gemeinwesen erlassen wurden, um alle Verbindungen und Wege der Kompromissfindungen mit den nichtmuslimischen Besatzern zu verhindern. Dies war auch das Hauptinteresse, so Taha, in den Fatawa der malikitischen Gelehrten zu Beginn dieses Jahrhunderts, in welchen es nordafrikanischen Muslimen verboten wurde, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dies war nämlich eine Zeit, in der Frankreich die Vorherrschaft in der Region zu stärken versuchte, indem man Muslimen Staatsangehörigkeit und Pässe anbot.

Heutzutage jedoch verfügen in Frankreich und woanders lebende Nordafrikaner sehr wohl über eine gültige Notwendigkeit für die Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit.

Wir sollten unter den anderen oben erwähnten Punkten nicht vergessen, dass die Erlassung einer Fatwa gemäß der oben angeführten Ausnahmeregelungen (oder der Interpretation der vorliegenden Relevanz früherer Fatawa, welche unter solchen außergewöhnlichen Umständen gegeben wurden) einen zum Idschtihad (Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung) qualifizierten Mufti erfordert. An einer anderer Stelle habe ich die zu benötigenden Qualifikationen für solche Gelehrten bereits erwähnt und in Folge dessen, wie selten es sie gibt. Für alle anderen wäre dies nur ein Weg ins Verderben.
Außerdem darf die angenommene Ausnahme, welche anerkannt wurde, um einen "lebensnotwendigen Nutzen" (darura) zu schützen, das notwendige Minimum nicht überschreiten, was zu berücksichtigen ist, um Schaden an diesem Nutzen selbst zu vermeiden.