Unser Lehnsherr und Meister Ali ibn Abū Ṭālib, möge Allah mit ihm zufrieden sein, sagte: „Die Welt vergeht und das Jenseits liegt vor uns, [sowohl die Welt als auch das Jenseits] haben Kinder, so sei ein Kind des Jenseits und nicht ein Kind dieser Welt; denn heute gibt es Anstrengung ohne Rechenschaft, wohingegen es morgen Rechenschaft ohne Anstrengung gibt!“ Die Vorstellung von ‚Entwicklung‘ (tatawwur), ‚Fortschritt‘ (taqaddum), ‚Erneuerung‘ (taǧdīd) und ‚Renaissance‘ (nahdah) wurde während der letzten Jahrzehnte von muslimischen Denkern, Politikern und Fachleuten oft benutzt. All diesen Wörtern, insbesondere dem Wort ‚Entwicklung‘, haftet die Vorstellung an, sich von Prinzipien und Fundamenten wegzubewegen. Obgleich dies manchmal notwendig ist, um an Anwendungsmöglichkeiten anzusetzen, ist es allzeit wichtig, sich nie zu weit von ihnen zu entfernen, damit sie wirksam und folgenreich bleiben.
Unsere Vorfahren in der islamischen Tradition machten es sich zur Aufgabe, nicht nur die heiligen Texte der Botschaft so zu bewahren, wie sie offenbart wurden, sondern auch – ob nun bewusst oder unbewusst – die heilige Tradition in ihrer Generation bestmöglich aufrechtzuerhalten. So stellten sie sicher, dass die nächste Generation eine Brücke zur ersten hat. Die gesamte sunnitische Gelehrsamkeit arbeitete und bewegte sich auf diesem Weg und dies in ihrer gesamten Variation und Bandbreite an Disziplinen.
Man könnte sagen, dass es so viel ‚Fortschritt‘ gab, wie die Methodologie und ihre Ausdrucksweise und Verbreitung aufeinanderfolgend feingeschliffen und perfektioniert wurden. All diese Anstrengungen hielten jedoch stets den Kontakt mit den Ursprüngen, der Ära des Propheten und seiner Gefährten. Dies ist das Hauptvermächtnis der sunnitischen Tradition, einem Erbe, dessen Empfänger und Hüter wir nun sind.
Leider erlitten wir jedoch eine Trennung und einen Bruch mit dieser Tradition. Heutzutage akzeptiert man den Korpus der primären heiligen Literatur, den Koran, und die Hadithsammlungen. Das damit zusammenhängende Gedankengut und die Methodologie werden hingegen zurückgewiesen oder neu ‚interpretiert‘, um ein ‚angemessenes‘ Geschichtsverständnis zu erlangen. Diese Rückkehr zum Ursprung, die man grob als rein textliche Rückkehr definieren könnte, bedroht unsere Fähigkeit, das prophetische Erbe, das das sunnitische Vermächtnis darstellt, wirklich zu empfangen, zu bewahren und schlussendlich gar zu verkörpern, sowohl individuell als auch kollektiv.
Obgleich jene, die eine reine Rückkehr zu ‚Koran und Sunna‘ unterstützen, einen puritanischen ‚textgetreuen‘ Ansatz wünschen und versichern, dass sie einen prophetischen Weg bieten, haben sie es eigentlich nur geschafft, einen Riss in der muslimischen Gemeinschaft zu verursachen, der ihre Fähigkeit bedroht, wahrhaftig das prophetische Erbe aufzusaugen und sich mohammedanisch zu verändern. Islām, imān und iḥsān bilden die Triade der Religion: Jeder Bereich ist für sich wichtig und greift gleichzeitig in den anderen über. Niemand kann heilige Anbetung (islām) haben, ohne in einem größeren Kosmos kontextualisiert zu sein (imān), gleichzeitig kann man nichts anderes als wahrhaftige Erfahrung und Bewusstsein (ihsān) haben, wenn man sich dem normativen, prophetischen Vorbild gewidmet hat, das wiederum Dreh- und Angelpunkt der heiligen Anbetung ist. Die sunnitische Tradition war ein Ausdruck dafür, wie diese drei Dinge in jeder Generation weiterlebten, damit jedem, der sich danach sehnte, ein Zugang zur prophetischen Tradition garantiert sei. Es ist nun die Aufgabe unserer Generation, diese Tradition zu bewahren. Der unmittelbare Weg, dies zu tun, ist die Einrichtung und das Pflegen von Institutionen sowie das ‚Sich-Kümmern‘ um die Suchenden und Studierenden des heiligen Wissens, die direkte Erben der prophetischen Hinterlassenschaft werden möchten. Nur wenn wir diese drei, islām, imān und ihsān, pflegen und kultivieren, wird unsere Generation die prophetische Frucht unserer Vorfahren hervorbringen. Und natürlich sind diese drei Faktoren auch eine Vorbereitung für schlussendliche Entfaltung aller Dinge, an die Sayyidunā Ali uns erinnert.
Schaykh Naeem Abdulwali
Übersetzt von: Matthias B. Abū Ḏarr Schmidt