Datum: 
06.10.2017
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Beantwortet von Mufti Muhammad ibn Adam

Frage: Muss man die Suren während des Gebets in der Reihenfolge rezitieren, wie sie im Koran angeordnet sind?

Antwort: Laut ḥanafītischer Rechtsschule ist es erforderlich (wāǧib), die Reihenfolge der Suren bei den farḍ- und wāǧib-Gebeten einzuhalten, wie etwa den fünf täglichen Pflichtgebeten, dem Freitagsgebet, dem witr-Gebet und dem ʿīd-Gebet. Daher ist das absichtliche Rezitieren der Suren in umgekehrter Reihenfolge verbietend verpönt (makrūh taḥrīman), wobei dies bei den freiwilligen Gebeten (nafl) nicht verpönt ist.

Imam al-Ḥaṣkafī – möge Allah mit ihm barmherzig sein – erklärt in seinem Werk ad-Durr al-mukhtār in der Abhandlung über verpönte Taten während des Gebetes: „…Und dass man die Suren in umgekehrter Reihenfolge rezitiert, es sei denn man schließt das Rezitieren des ganzen Koran ab, in welchem Fall man mit der Sure al-Baqara beginnt. Es ist in al-Qunya (Anm.: Titel eines Buches) erwähnt, dass wenn man die Sure al-Kāfirūn in der ersten und Sure al-Fīl in der zweiten rakʿa rezitiert und man sich dann erst daran erinnert, dass die Reihenfolge falsch ist, soll man die Sure (d. h. Sure al-Fīl) bis zum Ende lesen. Und es wird gesagt, dass man das Rezitieren der Sure beenden und dann neu beginnen sollte. Diese Regelungen betreffen jedoch nicht das freiwillige Gebet (nafl).“

Imam Ibn ʿābidīn – möge Allah mit ihm barmherzig sein – erklärt das Obige wie folgt: „(al-Ḥaṣkafīs Aussage: „Und dass man die Suren in der umgekehrten Reihenfolge rezitiert“) meint, dass man in der zweiten rakʿa  eine Sure rezitiert, die der Sure aus der ersten rakʿa in der Reihenfolge, in der sie im Koran vorkommt, vorangeht. Dem ist so, da das Rezitieren der Suren in ihrer richtigen Reihenfolge, in der sie im Koran vorkommen, von den unerlässlichen Handlungen (wāǧibāt) des Rezitierens ist.“ (s. Radd al-mukhtār ‘alā ad-durr al-mukhtār, 1/546-547)

In Marāqī al-falāḥ steht: „Es ist verpönt (verboten), eine Sure zu rezitieren, die der bereits rezitierten vorangeht. Saiyidunā Abdullah ibn Mas’ūd – möge Allah mit ihm zufrieden sein – sagte: ‚Wer den Koran in einer umgekehrten Reihenfolge rezitiert, wird selbst in dieser Weise behandelt‘…“ (s. Marāqī al-falāḥ, S.352)

Man sollte aber nicht vergessen, dass die Bedingung dafür, dass die Rezitation der Suren in verkehrter Reihenfolge als verbietend verpönt (makrūh taḥrīman) gilt, darin besteht, dass dies absichtlich und bewusst getan wird. Wenn man jedoch die Suren irrtümlicherweise oder aus Achtlosigkeit in der verkehrten Reihenfolge rezitiert, so gilt dies nicht als makrūh taḥrīman.

Imam Ibn ʿābidīn – Allah sei zufrieden mit ihm – erklärt: „Die Suren in umgekehrter Reihenfolge zu rezitieren (tankīs)… ist nur dann verpönt, wenn man dies absichtlich tut. Wenn dies jedoch aus Vergesslichkeit geschieht, dann ist es nicht verpönt, wie bereits in Scharḥ al-munī erwähnt.“ (s. Radd al-mukhtār, 1/547)

Die allgemeine Regelung (qā’ida) bezüglich der Wiederholung des Gebets oder der Niederwerfung, die man vollzieht, wenn man etwas im Gebet vergessen hat, (suǧūd as-sahu) lautet: „​Jedes Gebet, das ein Element von makrūh taḥrīman beinhaltet, muss wiederholt werden.“ (Kullu ṣalātin uddiyat ma’ā karahāt at-taḥrīm, taǧib i‘ādatuhā).  

Aber wie bereits von Imam Ibn ʿābidīn erklärt, ist dies nur dann der Fall, wenn eine Tat, die als makrūh taḥrīman gilt, anstelle einer verpflichtenden Handlung (wāǧib) im Gebet verrichtet wird. Diese wāǧib-Handlung muss ein Teil des Gebetes selbst sein und nicht Teil von etwas anderem. Genau aus diesem Grund muss jemand, der dem Gemeinschaftsgebet (ǧamā’a-Gebet) nicht beitritt, sondern sein Gebet alleine verrichtet, das Gebet nicht wiederholen, obwohl das Verrichten des Gebetes in der Gemeinschaft wāǧib ist (wenn man keinen gültigen Verhinderungsgrund hat), aber dieses wāǧib ist kein Bestandteil des Gebetes selbst.

Imam Ibn ʿābidīn – Allah möge mit ihm zufrieden sein – legt dar, nachdem er den obigen Fall diskutiert hat: „Dies wird durch die Tatsache untermauert, dass sie (die fuqahāʾ) gesagt haben, dass das Rezitieren der Suren in der Reihenfolge des Koran wāǧib ist. Sollte man sie jedoch in umgekehrter Reihenfolge rezitieren, ist dies zwar sündhaft, trotzdem wird die Vergessensniederwerfung (suǧūd as-sahu) nicht erforderlich, da das Einhalten der Reihenfolge der Suren ein verpflichtendes Element (wāǧibat) der Koranrezitation (qirāʿa) ist, nicht aber ein wāǧibat des Gebetes an sich, wie auch in al-Bahr (von Ibn Nuǧaym) im Kapitel ‚Über die begangenen Fehler‘ erwähnt.“ (s. Radd al-mukhtār, 1/457)

Somit ist die Niederwerfung nach dem Vergessen einer Handlung im Gebet (suǧūd as-sahu) und/oder das Nachholen des Gebetes nicht notwendig, da das Einhalten der Reihenfolge der Suren im Gebet zu den notwendigen Elementen (wāǧibat) der Koranrezitation (qirāʿa) zählt und nicht zu denen des Gebetes selbst.

Obgleich es zwar nicht erforderlich ist, die suǧūd as-sahu zu verrichten, wäre es vielleicht besser, das Gebet zu wiederholen (wenn möglich), wenn die Suren absichtlich in verkehrter Reihenfolge rezitiert wurden, da einige zeitgenössische fuqahāʾ in ihren fatāwā-Werken festlegen, dass das Gebet wiederholt werden sollte.

Imam Ibn ʿābidīn hat selbst dargelegt, dass das Wiederholen des Gebets (i‘āda) in bestimmten Situationen notwendig ist, z. B. beim Beten in bebilderter Kleidung oder beim Beten, während man Harn- oder Stuhldrang verspürt. Beide Situationen gelten als makrūh taḥrīman und erfordern daher keiner suǧūd as-sahu. (vgl. Fatāwā darul uloom 2/224 & Radd al-mukhtār 1/457)

Und zu guter Letzt gilt, dass wenn ein Imam die Suren in einer umgekehrten Reihenfolge rezitiert, so soll der hinter ihm Betende davon ausgehen, dass der Imam dies aus Vergesslichkeit oder aus Versehen tat, denn es ist jedermanns Pflicht, die Taten der anderen im besten Lichte zu betrachten, wie uns der Gesandte – Allahs Frieden und Segen mit ihm – in vielen Überlieferungen gebot.

Abschließend lassen sich diese Punkte lernen:

1) In farḍ- und wāǧib-Gebeten ist es verpflichtend erforderlich, die Suren in der richtigen Reihenfolge zu rezitieren, und es gilt als verbietend verpönt (makrūh taḥrīman), sie absichtlich und willentlich in umgekehrter Reihenfolge zu rezitieren.

2) Es ist nicht verpönt (makrūh), die Suren unabsichtlich und aus Achtlosigkeit in umgekehrter Reihenfolge zu rezitieren.

3) Die Notwendigkeit der Vergessensniederwerfung (suǧūd as-sahu) ergibt sich nicht, ungeachtet dessen, ob dies absichtlich oder versehentlich geschieht.

4) Es ist ebenfalls nicht notwendig, das Gebet zu wiederholen, wohl ist dies aber empfohlen, wenn man es absichtlich getan hat.

5) Wenn ein Imam dies im Gebet tut, dann soll man davon ausgehen, dass es unabsichtlich geschah.

 

Und Allah weiß es am besten.

Muhammad ibn Adam

Darul Iftaa

Leicester, UK