Datum: 
06.10.2017

Freier Wille?

Beantwortet von Šayḫ Faraz A. Khan

Frage: Ich habe starke Zweifel am Islam, da ich Schwierigkeiten damit habe, den Glauben an Qadr (Bestimmung) zu akzeptieren. Folgender Vers aus Imām a-Ṭaḥāwīs Glaubenslehre plagt mich beispielsweise sehr. 

83. Das Paradies und das Feuer sind erschaffene Dinge, die kein Ende haben, und wir glauben, dass Allāh sie vor dem Rest der Schöpfung erschaffen hat und dann die Menschen erschaffen hat, um sie darin zu bevölkern. Wem Er möchte, dem gewährt Er das Paradies  aus Seiner Großzügigkeit heraus und wen Er möchte, übergibt Er durch Seine Gerechtigkeit in die Hölle. Ein jeder handelt in Übereinstimmung mit dessen Schicksal und geht dorthin, wofür er erschaffen wurde.

Ebenso dieser Vers:

(44.) Das Gleiche gilt für alle Taten, die Menschen ausführen, die genauso verrichtet werden, wie Allāh wusste, dass sie verrichtet würden. Jedem wird das erleichtert, wofür er erschaffen wurde, und es ist jene Handlung, mit welcher das Leben eines Menschen besiegelt wird, die sein Schicksal bestimmt. Die Glücklichen sind nach Allāhs Urteil glücklich und die Unseligen sind  gemäß Allāhs Urteil unselig.

Ich dachte eigentlich, dass Allāh Seine gesamte Schöpfung liebt und das Beste für sie möchte. Aber jetzt soll ich glauben, dass Er die Nicht-Muslime prüft, um ihren Untergang zu rechtfertigen. Wie ist das mit der Vorstellung eines gütigen und liebenden Gottes zu vereinbaren? Diese Vorstellung verursacht mir großes Leid in meinem Glauben und meinem Leben. Heißt das letzten Endes nicht auch, dass Pharao und Šayṭān u.a. nur den Zweck ihrer Schöpfung erfüllten?

Antwort: As-salāmu ʿalaikum wa-raḥmatuʾAllāhi wa-barakātuhu. Ich bete, dass dich diese Antwort bei bester Gesundheit und bestem Zustand erreicht.

Ich glaube, dass du diesen Aspekt der Religion missverstehst. Allāhs aus der Vorewigkeit stammender Wille stimmt mit Seinem vorewigen Wissen überein. Das bedeutet keineswegs, dass der freie Wille der Menschen und der Ǧinn nicht existiert. Es heißt vielmehr, dass Allāh in der Vorewigkeit wusste und darauf basierend dementsprechend bestimmte, dass Pharao so sein würde, wie er dann auch tatsächlich war. Allāh bestimmte die Taten des Pharaos gemäß Seines vorewigen Wissens über Pharaos Wahl. Hinsichtlich der Zeitabfolge gibt es natürlich keine Auswirkungen (siehe unten zur Zeitlosigkeit Allāhs). 


Aber Pharao entschloss sich zu Lebzeiten, so zu handeln, wie er nun einmal handelte, ohne in irgendeiner Form dazu gezwungen worden zu sein. Diese zwei Realitäten schließen sich gegenseitig nicht aus. Wir sind überzeugt von der Existenz des freien Willen des Menschen, und ebenso bejahen wir das göttlichen Wissen, den Willen und die Macht Allāhs.

Diese Angelegenheit ist selbst auf elementarer Ebene komplex und schwer zu begreifen. Unserer Schwierigkeit liegt zugrunde, dass wir das göttlichen Attribut der „Zeitlosigkeit“ nicht erfassen können. Er, Der Allerhabene, ist Der Erste und Der Letzte, ohne Beginn und ohne Ende. Er ist nicht an Zeit gebunden, da selbst die Zeit Seine Schöpfung ist.

Wie unser Lehrer Ibn ‘Aṭā’illāh erklärt: „Allāh existierte, und es gab nichts außer Ihm. Und Er ist jetzt genauso, wie Er war.“

Alle Schöpfung und alle Momente der Schöpfung sind vor Gott sozusagen „ausgebreitet“.  Was Allāh betrifft, gibt es kein „vorher/jetzt/nachher“. 
Vom göttlichen Blickwinkel aus gesehen, ist Pharaos Platz im Feuer nicht erst „nach“ seiner Geburt bestimmt. Allāhs Wissen über Pharao vergrößerte sich kein bisschen nach Pharao. Dies zu verstehen, ist äußerst wichtig. In gewisser Hinsicht war es also schon geschehen.



„Sie schätzen Allāh nicht ein, wie es Ihm gebührt. Allāh ist wahrlich Stark und Allmächtig.“ (Qur‘ān, 22:74.)


Ich würde dir raten, die Glaubenslehre bei qualifizierten Gelehrten zu erlernen. Du solltest in Erwägung ziehen, diesen Online-Kurs zu belegen: 
Islamic Beliefs for Seekers: Dardir’s Kharidah Explained

Und Allāh weiß es am besten.

Wassalām. 
Faraz

Antwort geprüft und genehmigt von Faraz Rabbani

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